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Stadt Zürich
20.03.2022
24.06.2022 20:57 Uhr

Oerlikons Zauber soll erhalten bleiben

Bild: In der Liegenschaft Flora an der Schwamendingenstrasse ist Dölf Widmer aufgewachsen. Das Restaurant befand sich rechts im Bild. (Bild: zvg)
Die glanzvolle Industriegeschichte Oerlikons ist Dölf Widmers grosse Leidenschaft, das Sammeln und Dokumentieren seine zweite. Das führte zu einem umfassenden Archiv und schliesslich zur Gründung des Ortsgeschichtlichen Vereins Oerlikon. Unlängst wurde er 90 Jahre alt.

«Meine Leidenschaft für Oerlikon beginnt in frühster Kindheit», erzählt Dölf Widmer. «Ich bin hier zur Schule gegangen und habe später bei der Maschinenfabrik Oerlikon eine Lehre als Kleinmechaniker gemacht.» Obwohl er seit über 50 Jahren in Opfikon lebt, ist seine Verbundenheit mit dem Quartier geblieben. Sein Grossvater hatte 1920 die Liegenschaft Flora erworben. Darin wohnte die Familie, und die Eltern betrieben das Restaurant Flora. «Dadurch hatten wir viel Kontakt zu den Menschen im Quartier.»

1923 hat die Familie einen Saal für Veranstaltungen gebaut, der auch als Kegelbahn genutzt werden konnte. «Unter der Woche war es eine Kegelbahn, und am Wochenende konnte man auf die Rückrollbahnen für die Kugeln Bänke montieren und hatte so einen idealen, zentral gelegenen Veranstaltungsort.» Und dieser war in Oerlikon sehr beliebt. Der Orchesterverein Oerlikon probte hier, und auch die Fasnacht war damals noch ein grosses Thema.

Zurück im Restaurant

Nach der Lehre arbeitete Dölf Widmer sechs Jahre auf der Versuchsabteilung der MFO. Es folgte ein spannendes Austauschjahr in England, wobei er sich verpflichtete, danach weitere zwei Jahre bei der MFO zu bleiben. Dank einer Zusatzausbildung zum Monteur für Hochspannungsschalter war er anschliessend viel im In- und Ausland unterwegs. «Doch der Gesundheitszustand meiner Eltern verschlechterte sich. Deshalb machte ich ein halbes Jahr lang eine Wirteausbildung und übernahm danach mit meiner Frau das Restaurant. Man hat dadurch zwar viel Kontakt zum Quartier, aber die Wir­terei ist kein Traumberuf. Man ist ständig der Öffentlichkeit ausgesetzt.»

Vor allem seine Frau habe unter der Doppelbelastung gelitten, zumal noch zwei Kinder zu betreuen waren. Als sich die Gelegenheit bot, das in der Flora eingemietete Schlüsselgeschäft zu übernehmen, packte Dölf Widmer die Chance und kaufte das Geschäft, nachdem das Res­taurant in andere Hände übergegangen war. «Damals brachte der Schlüsselservice gute Einnahmen, zumal man noch Auto- und Hausschlüssel nachmachen konnte. Bei den heutigen elektronischen Schlüsseln ist das nicht mehr möglich.» Die Widmer Schlüsselservice AG florierte, und man bekam auch grössere Aufträge für Schliessanlagen in Spitälern und auch in einem AKW. Die Firma existiert heute noch im Örlikerhus und wird von Dölf Widmers beiden Söhnen geleitet.

Der Untergang der Industrie

Trotz anderer beruflicher Ausrichtung blieb Dölf Widmer «im Herzen immer ein MFÖler», betont er. Umso mehr schmerzte es ihn, als die MFO 1967 von der BBC übernommen wurde. «Meine Leidenschaft für das Sammeln und Dokumentieren von Unterlagen begann mit der Desindustrialisierung der Maschinenindus­trie», sagt Dölf Widmer. «Es wurde mein Hobby zu schauen, was in Oerlikon, aber auch in Zürich West bei Maag und Escher Wyss und in Winterthur bei Sulzer geschah. Ich musste miterleben, wie in Oerlikon nach und nach die Fabrikhallen abgerissen wurden. Auch die SRO-Fabrik am Berninaplatz verschwand.» Mit seiner ­Kamera stand er dabei und dokumentierte alles. «Als es der Akkumulatoren­fabrik Oerlikon an den Kragen ging, standen vorne die Bagger und hinten ich mit einem Lieferwagen. Ich fragte, ob ich gewisse Dinge aus dem Archiv bekommen konnte. Das konnten Fotos, Hauszeitschriften oder Gegenstände aus der Batterieproduktion sein. Im Verlauf von 20 Jahren entwickelte ich eine fast krankhafte Dokumentationslust.»

Der OVO wird gegründet

Mit dieser Sammel- und Dokumenta­tionslust war Dölf Widmer nicht allein. Er gründete zusammen mit einer Reihe von gleichgesinnten Oerliker Freunden den Ortsgeschichtlichen Verein. Auch sie interessierten sich für die Frage, was von der Industriegeschichte von Oerlikon noch übrig blieb. Und so beschlossen sie vor bald 20 Jahren, einen Ortsgeschichtlichen Verein zu gründen. Die Gründungsversammlung im Saal des Hotels Sternen wurde sorgfältig vorbereitet und zahlreiche Quartierbewohnerinnen und -bewohner wurden eingeladen. «Wir rechneten mit ungefähr 30 Interessierten – gekommen sind 90!», erinnert sich Dölf Widmer heute noch mit Freude. 67 davon wurden zu Mitgliedern. Er selbst wurde erster Präsident.

«Es war vor allem mein Ziel, Ausstellungen zu organisieren. Und das war ein cleverer Schachzug: Die Leute sahen die Exponate aus Privatbesitz und wurden dadurch animiert, auch ihre aufbewahrten Sachen zu zeigen und uns zu über­geben.» Als Überraschung bekam Dölf Widmer an der Gründungsversammlung von seinem Freund und treusten Mitstreiter Erich Lang einen Schlüssel für einen Lagerraum in dessen Liegenschaft, wo der Verein künftig das gesamte Material lagern konnte.

Ortsmuseum wird eingerichtet

Wie sein Vater war auch Dölf Widmer Mitglied des Pikett Glattal, das am Baumacker seine Wagen stationiert hatte. Als dieser freiwillige Feuerwehrdienst aufgelöst wurde, übernahm Schutz & Rettung Zürich die Räumlichkeiten und richtete im Obergeschoss Schulungs- und Sitzungsräume ein. Einer dieser Sitzungsräume wurde später dem Feuerwehrverein Pikett Glattal für ein Museum zur Verfügung gestellt, und dieser teilt seither den Raum mit dem OVO. «Von der Accu bekamen wir zehn Vitrinen geschenkt, und damit haben wir gemeinsam das Museum eingerichtet.» Noch heute ist es jeden zweiten Samstag im Monat vormittags von 10 bis 12 Uhr für Interessierte geöffnet.

Inzwischen platzte das Archiv langsam aber sicher aus allen Nähten. Längst waren es nicht mehr nur Unterlagen und Exponate, die Oerlikons Industriegeschichte dokumentierten. Auch andere Zeugen der Vergangenheit wie Fotos, Unterlagen und Geräte wurden gehortet, ­angeschrieben und in einer Datenbank erfasst. «Vieles ist doppelt abgelegt», gesteht der Sammler. «Auch in unserem Haus lagert sich einiges. Ich bin dabei, es auszusortieren.»

Obwohl sich der dreifache Vater, vierfache Grossvater und seit neustem auch Urgrossvater, der im Dezember den 90. Geburtstag feierte, schon lange aus dem Vorstand des OVO zurückgezogen hatte, organisierte er weitere Ausstellungen, die zum Beispiel an der traditionellen OVO-Stubete am 2. Januar gezeigt wurden. «Die Sachen, die ich gehortet habe, sind nicht sehr wertvoll. Aber es sind Erinnerungsstücke. Vieles habe ich vor dem Vergessen und der Vernichtung gerettet.»

Karin Steiner