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Stadt Zürich
05.12.2022
05.12.2022 17:27 Uhr

Sie tschuteten auf der Martastrasse

Werner Lüscher auf seinem Balkon mit Blick ins ­Stadion Letzi­grund.
Werner Lüscher auf seinem Balkon mit Blick ins ­Stadion Letzi­grund. Bild: Jeannette Gerber
Während sich die Schweiz auf den WM-Match gegen Portugal vorbereitet, erzählt Werner Lüscher über die «Martasträssler». Heute sind sie 80 bis 90 Jahre alt. In ihrer Jugend spielten sie auf Wiediker Strassen Fussball, darunter spätere Stars wie Köbi Kuhn.

Jeannette Gerber

So mancher erfolgreiche Zürcher Sportler hatte seine Laufbahn in den Sechziger- und Siebzigerjahren im Arbeiterviertel in Wiedikon begonnen. Die Jugend spielte Fussball auf der Strasse an der Kreuzung Marta-/Zurlindenstrasse oder veranstaltete Velorennen durchs Quartier. Heute kaum mehr vorstellbar, denn das damalige Arbeiterviertel ist inzwischen zum Kultquartier mutiert.

Köbi Kuhn, Rafi Brizzi, ...

Die Fussballlegende Köbi Kuhn und Nationalspieler Bruno Brizzi, der 1964 das ausschlaggebende Tor im Halbfinal gegen Real Madrid schoss, und viele andere spätere Sportkoryphäen starteten da ihre Karrieren. Um weitere Sportgrössen aus dem Quartier zu nennen: Brunos Bruder Rafi brillierte am Sechstagerennen. Der zweite Bruder Fernando boxte. Ernst Ringger war Schweizer Meister im Pfeilbogenschiessen. Richard Jäger führte GC 1956 zum Cupsieg. Rolf Wüthrich schoss für die Nati an der WM 1962 ein Tor gegen Chile. Und Max Benker war Europameister im Kunstturnen.

Wenn sie als Buben nicht auf dem Asphalt tschuteten, spielten sie abwechselnd auf der Fritschi- und der Ämtlerwiese sowie auf dem Schulhausplatz. Diese Knaben wurden zu Männern, die heute alle zwischen 80 und 90 Jahre alt sind – falls sie noch leben. Damals nannten sie sich selbst die «Martasträssler».

Regelmässige Treffen seit 1975

Das brachte Werner Lüscher, ebenfalls Tschüteler bei den «Martasträsslern», auf die Idee, ein Treffen der Beteiligten zu ­organisieren. Der erste Höck wurde am 1. Februar 1975 durchgeführt und fand grossen Anklang. Dieser inzwischen zur Tradition gewordene Anlass fand ab 1982 alle sieben, später sogar alle zwei Jahre statt. «Bei der ersten Versammlung waren wir 45 – beim letzten Wiedersehen am 25. November im Restaurant Da Cono beim Stadion Letzigrund waren wir gerade noch zu fünft. Es leben zwar noch 14 «Marta­strässler», doch kaum einer wohnt heute in Wiedikon», so Lüscher.

  • Erinnerungen an Treffen der «Martasträssler» (von links): Bruno Brizzi, Cicco Civati und Köbi Kuhn … Bild: zvg
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  • … sowie Musiker Nöggi. Bild: zvg
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Diese Zeitung besuchte Werner Lüscher, pensionierter selbstständiger Versicherungsmakler, in seiner Wohnung, die sinnigerweise neben dem Stadion Letzi­grund liegt. Der atemberaubende Blick vom Balkon erlaubt es ihm, gratis die Fussballspiele zu verfolgen. Er ist ­einer der jüngeren «Martasträssler» – 80 Jahre alt. Auf seinem Tisch stapelten sich Ordner und Fotoalben, alles Erinnerungen aus längst vergangenen Zeiten. Lüscher selbst hatte sie akribisch gesammelt und erinnerte sich genau an sämtliche Vorkommnisse, Anekdoten und Geschichten. Er selbst sei als Junge ein guter Fussballer gewesen: «Ich war 1957 Tor­schützenkönig am Stadtzürcher Schülerturnier», meinte er nicht ohne Stolz.

Viele stammten aus Italien

Auf die Frage, wie es damals dazu kam, dass die Buben auf der Strasse Fussball spielten, erklärte er: «Wir waren Kinder aus Arbeiterfamilien. Wir hatten kaum Geld.» Die Väter mussten hart arbeiten, und die Mütter waren mit Hausarbeiten und Geschwistern beschäftigt. Viele aus der Nachbarschaft stammten aus Italien, «doch uns Jungen interessierte es nicht, woher sie kamen, sondern ob sie gut Fussball spielen oder Velo fahren konnten. Wir waren auf uns gestellt und verbrachten die Freizeit beim Fussballspiel oder machten die Gegend mit Velorennen unsicher. So vertrieben wir unsere Zeit, bei Sonnenschein und Regen.» Damals habe es auch noch keine Drogen gegeben, und die einzigen, die auf der Strasse rauchten, seien die Prostituierten gewesen.

Wie kann man sich so ein Treffen der «Martasträssler» vorstellen, unterhalten sie sich auch über die aktuellen Geschehnisse in der Welt? Werner Lüscher: «Wir sprechen ausschliesslich über unsere ­Vergangenheit und schwelgen in Erin­nerungen. Gegenwart und Politik sind keine Themen, und über Krankheiten zu sprechen ist explizit verboten. Natürlich wurde beim letzten Treffen auch über die WM diskutiert.»

Nöggi singt wieder

Einen von ihnen besonders zu erwähnen, lag Werner Lüscher am Herzen: «Seit 1985 ist der Musiker Nöggi – alias Bruno Stöckli – regelmässig dabei. Der ehemalige Bauchnuschti hat uns mit seinen Liedern ‹I bin verliebt i Züri›, ‹I bin en Italiano und spiele guet Piano› und dem ‹Marta­strässler-Blues› viel Freude bereitet.»

Der heute 76-Jährige sei während 12 Jahren krankheitshalber arbeitsunfähig gewesen, nun spiele und singe er wieder in Altersheimen. «Ich versuche, für ihn Aufträge reinzubekommen», berichtet ­Lüscher. «Denn falls ich einmal ins Altersheim müsste, würde ich mich freuen, von Nöggi unterhalten zu werden», fügte er hinzu.

Jeannette Gerber