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Zürich 2
22.12.2022
22.12.2022 09:53 Uhr

Hier tragen Mäuse Kleider und essen Glace

Erika Ess mit ihren neuesten Kreationen, einer Zuckerbäckerin und einer Maus, die Mandeln brennt.
Erika Ess mit ihren neuesten Kreationen, einer Zuckerbäckerin und einer Maus, die Mandeln brennt. Bild: Jeannette Gerber
Hunderte Mäuse bevölkern das Haus Ecke Gertrud-/ Aemtlerstrasse. Dies nicht etwa zum Missfallen der Menschen im Quartier, ganz im Gegenteil zur Freude von Gross und Klein. Werklehrerin Erika Ess dekoriert seit bald 20 Jahren die Schaufenster, aktuell zum Thema «Chilbi».

Jeannette Gerber

Die Idee entstand vor 17 Jahren. In der Vorweihnachtszeit dekorierte Erika Ess den Hausflur wie üblich mit Tannenreis-Girlanden. Um den Mit­bewohnerinnen und -bewohnern eine spezielle Freude zu bereiten, hängte sie Stoffmäuse in die Girlanden; Mäuse, die sie so bekleidete und dekorierte, dass alle ihr Alter Ego wiedererkannten.

Erika Ess – inzwischen pensioniert – ist ursprünglich ausgebildete Kindergärtnerin. Ihre Grundausbildung als Werklehrerin erhielt sie an der Schule für Gestaltung in Zürich. Anschliessend studierte sie Werkerziehung an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Ihre erste Anstellung als Werklehrerin erhielt sie in Buchs bei Regensdorf. Später lehrte sie während 18 Jahren an der Kantonsschule Aarau die Fächer Keramik, Holz, Textil und Papier. «Und mit 62 Jahren gründete ich hier an der Gertrudstrasse in Wiedikon mein eigenes Atelier inklusive Töpferwerkstatt mit Ofen», erzählte sie.

Erst Ikea-Mäuse, jetzt Ess-Mäuse

Durch das Dekorieren der Girlanden war Erika Ess bereits mit dem Mäusevirus infiziert. Nun begann sie, Mäuse in Menschen zu verwandeln. Dazu beschaffte sie sich im Möbelhaus Ikea die notwendige Grundlage – die Mäuse. «Ikea hat den Verkauf inzwischen leider eingestellt. Deshalb verwende ich jetzt dänische Mäuse, die hübsch als Geschenk verpackt in einer Kartonschachtel daherkommen. Und heute produziere ich auch meine eigenen Mäuse», erzählte sie. Gewissermassen Ess-Mäuse.

In ihren beiden Schaufenstern begann sie, Ausstellungen mit jährlich wechselnden Themen zu realisieren. Zum Beispiel das Thema Appenzell, wo die Mäuse Trachten trugen und die Kühe mit farbenprächtigen Blumen bekränzt waren. Ein weiteres ergiebiges Thema war das Himmelreich mit Mäuseengeln auf Wolken aus weissen Federn. Soeben ist die Ausstellung «Chilbi» gestartet. Was assoziiert man mit dem Begriff «Chilbi»? Zuckerwatte, gebrannte Mandeln, heisse Marroni, Bratwürste, Zuckerstängel, Geisterbahn, eine Wahrsagerin und natürlich Karussells sowie Wurf- und Schiessstände, an denen man Kuscheltiere gewinnen kann. Das alles findet man in den Schaufenstern in Miniformat mit Mäusen als Protagonisten. Die Stände konstruiert Erika Ess ab und zu mithilfe ihres Ehemanns Peter, der Architekt ist. Ausgediente Zigarrenschachteln bekommen dadurch neuen Glanz.

  • Nicht nur die Kinder sind verzückt über die Ausstellung mit den Mäusen, die sich an einer Chilbi tummeln. Bild: zvg
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  • Erika Ess’ Lieblings-Maus wird von einem Mäuserich fotografiert. Bild: Jeannette Gerber
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  • Die Ausstellung zeigt es: Auch Mäusen fällt am Zuckerbäckerstand die Wahl schwer. Bild: zvg
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Kein Fetzchen Stoff, kein Stück Draht, keine Spiegelscherbe – nichts entkommt ihren geschickten Händen. Aus Draht fertigt die Werklehrerin winzige Brillen oder Velos – also Drahtesel – und vieles mehr. Nur schon die Kleidchen sind Meisterwerke, nicht zu übersehen die Mini-Hüte und die Accessoires, wie Fotoapparate in Kleinstformat. Muscheln werden zu ­Glace-Cornets. Ihre Fantasie kennt keine Grenzen. Das meiste fertigt sie selber an, den Rest findet sie in Geschäften für Puppenstuben. Es ist unmöglich, alle Details auf einen Blick zu erfassen – es ist ein ­Kaleidoskop von Erinnerungen aus der Kindheit. Man muss sich dafür Zeit nehmen.

Um den Kindern einen guten Überblick zu ermöglichen, hat Erika Ess Holzstufen vor dem Schaufenster installiert. Und die Kinder lieben diese himmlischen Ausstellungen im «Bäbistube»-Format und können sich daran kaum sattsehen. Die Ausstellungen wechseln im Jahresrhythmus; die aktuelle bleibt bis September 2023. Bis dahin ergänzt sie die Ausstellung immer wieder mit neuen Exponaten. Im Moment arbeitet sie an einem ­Glace-Stand mit einer Verkäuferin im St. Galler Spitzenkleid, an einem Bäcker beim Zuckermandeln-Rösten und an einem Metzger beim Würste-Grillieren.

Es gibt nichts zu kaufen

Freude zu bereiten war Erika Ess’ Grundgedanke. Kommerz war nie Thema. Bei Gelegenheit verschenkt sie modifizierte Mäuse. Es bereitet ihr Spass, Menschen zu beschenken, denn – wie man sagt – geteilte Freude ist doppelte Freude. «Speziell zu Corona-Zeiten waren die Fenster ein kleiner Lichtblick fürs Quartier», sagt Erika Ess. Ehemann Peter präzisiert: «Sie kreiert diese Schaufenster, um Kinder und Erwachsene im Quartier zu erfreuen, Erinnerungen zu wecken und zum Schmunzeln zu bringen.» Es gebe jedoch an diesem Ort nichts zu kaufen, nur zu geniessen.

Eine kreative Familie

Auf die Frage, wo sie denn ihre ständige Kreativität hernehme, erklärte sie: «Mein Grossvater Ernst Pfund war Konditor und stammte aus der Zuckerbäckerdynastie in St. Gallen.» Die besass während 156 Jahren (bis 2016) eine Confiserie. «Und mein Cousin Willi Pfund wirkte als Kunstmaler am Zirkus Knie, war dann während vieler Jahren Konditor bei der Confiserie Sprüngli und eröffnete schliesslich die erste Zuckerschule in Zürich. Seine Spezialität war das Zucker­blasen, was so ähnlich wie Glasblasen ist – nur im Mini­format.»

Es sind nicht nur die handwerklichen Fähigkeiten, die Erika Ess auszeichnen, die Kreativität wurde ihr gewissermassen in die Wiege gelegt.

Jeannette Gerber