Jeannette Gerber
Kurz vor seinem grossen Geburtstag – dem hundertsten – am 14. Januar 2023 durfte diese Zeitung den Jubilar August Baumgartner in seiner 3-Zimmer-Wohnung in Wollishofen besuchen. Der Esszimmertisch war gedeckt für Kaffee und Kuchen. Baumgartner servierte je ein grosses Stück Zuger Kirschtorte, gut getränkt. «Wenn die Torte nicht feucht genug ist, tröpfle ich immer genügend Kirsch in den Teller, damit sie diesen aufsaugt», sagte er schmunzelnd.
Zu Gast war auch Paula Lanfranconi, die sich bei der Nachbarschaftshilfe Zürich 2 engagiert, ihn regelmässig mit Einkäufen unterstützt und ihm auch sonst eine liebe Freundin ist. «Sie ist eine, die gut zuhören kann», meinte Baumgartner. Paula Lanfranconi ist Journalistin und Buchautorin. Eines ihrer Bücher heisst «Schöne Aussichten!» und handelt von der Lebenskunst im Alter. Für Guschti – wie sie ihn liebevoll nennt – ist sie die ideale Gesprächspartnerin.
Ein gelernter Maschinenschlosser
Und dann beginnt Baumgartner zu erzählen: Geboren wurde er am 14. Januar 1923 an der Rötelstrasse in Unterstrass. Nach dem Schulabschluss begann er eine Lehre als Maschinenschlosser bei der Maag Zahnräder AG, die jedoch durch die zu leistende Rekrutenschule unterbrochen wurde. Als er 1946 die Lehre erfolgreich abgeschlossen hatte, wechselte er zur National Registrierkassen AG – heute NCR.
Dort fing er als Mechaniker an und beendete seine berufliche Laufbahn nach mehr als 41 Jahren als technischer Direktor. Somit wurde er während eines Jahrhundertlebens Zeitzeuge technischer und wirtschaftlicher Entwicklungen in der Schweiz.
Beim Erzählen verliert sich August Baumgartner gerne in Details. Eines davon ist: «Als ich mich bei der National Registrierkassen AG bewarb, lautete der letzte Satz in meinem Schreiben: ‹Ich bin der Mann, den Sie brauchen.›» Ganz schön selbstbewusst, aber wirksam.
Im Englischkurs verliebt
Seine geliebte Ehefrau Heidi lernte er 1946 an der Berufsschule im Englischkurs kennen. Sie heirateten in der Alten Kirche Wollishofen und lebten 68 Jahre im Quartier. Aus ihrer Ehe gingen Tochter Heidi und Sohn Peter hervor. Dann folgten die beiden Enkelinnen. Voller Stolz berichtet er: «Janine ist Directrice der Royal Academy of Dance in London. Sie tanzt seit dem achten Lebensjahr. Und Evelyne ist Tierärztin mit eigener Praxis in Baar im Kanton Zug.»
«Als meine geliebte Heidi krank wurde, musste ich an unseren Schwur denken: ‹Bis dass der Tod euch scheidet.› Das war einer der Gründe, weshalb ich mich entschloss, sie zu Hause zu pflegen, natürlich mit Hilfe der Spitex», welche er im gleichen Atemzug über die Massen lobt. Im Gedenken an seine 2018 verstorbene Ehefrau halte er sich noch oft zum Meditieren im Kirchgarten auf. «Es isch ä schöni Ziit gsii», stellt er lächelnd fest.
Nach den Lieblingsbeschäftigungen gefragt, erklärt er, dass er immer schon ein Bücherwurm gewesen sei. «Mit meinem ersten Lehrlingsgehalt von fünf Franken im Monat habe ich das Buch ‹Fred Eschers Liebe› von Ernst Waller gekauft.»
Als grosser Feinschmecker interessiert er sich besonders fürs Kochen und Essen. «Ich war während vierzig Jahren Mitglied im Club kochender Männer», erzählt er. Auch heute noch koche er für sich kleine Menüs. «Heute Abend gibt es Gemüse mit Speckwürfeli an einer Rahmsauce auf Hörnli», fügt er hinzu. Seine Frau und er hätten oft seine Geschäftsfreunde – bis zu zwölf am Tisch – bewirtet.
Gesundes Essen und Krafttraining
Nach der Pensionierung 1988 erwarb er ohne entsprechende Schulung einen Computer und eignete sich «learning by doing» die nötigen Kenntnisse an. Bis vor kurzem habe er auch das E-Banking selbst erledigt. Das sei ihm heute leider nicht mehr möglich, da er an einer fortschreitenden Makuladegeneration leide. Es ist erstaunlich, wie er mit Worten wie QR-Codes umgeht – im Alter von 100 Jahren. Viele jüngere Menschen scheuen sich davor. Sohn Peter Baumgartner, der inzwischen auch schon 72 Jahre alt ist, hilft ihm bei Schreib- und Steuersachen.
Doch was ist sein Geheimnis für sein hohes Alter in relativ guter Gesundheit? «Ausser den nötigen Genen sind gesundes Essen, ab und zu ein Schluck Wein, tägliches Krafttraining und viel Bewegung unerlässlich.» Er gehe mit dem Rollator, den er seit einer Rückenoperation benötige, täglich spazieren, fahre mit dem ÖV und besuche betagte Freunde und Freundinnen.
«Ich hatte schon immer eine positive Einstellung zum Leben und zu den Mitmenschen.» Nach seiner Pensionierung war er während neun Jahren als Freiwilliger im Vorstand des kantonalen Rentnerverbands für die Administration zuständig. Dabei hatte er Einsicht in die Probleme betagter Menschen. Während des ganzen Gesprächs hört man von ihm keine einzige Klage, obwohl Augenlicht und Gehör altersgemäss beeinträchtigt sind. Und sein lebensbejahendes Wesen half ihm sicher oft über Schwierigkeiten hinweg.
Zu seiner Geburtstagsfeier lädt August Baumgartner 40 Personen ins Restaurant Muggenbühl ein: Familie, Verwandte, Freundinnen und Freunde, aber keine Weggefährten, die seien leider alle inzwischen verstorben. Auf die Frage, was er denn für einen speziellen Wunsch für diesen grossen Tag habe, meint er schlicht: «Ich wünsche mir, dass mein Augenlicht nicht noch schlechter wird.»