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Stadt Zürich
18.03.2023
18.07.2023 08:35 Uhr

Als Orang-Utan-Mädchen Sirih durch eine tierische Tragödie zum Medienstar wurde

An der Seite von Annemarie Schmidt-Pfister: Orang-Utan-Baby Sirih wagt 1993 im Garten der Familie erste Kletterversuche.
An der Seite von Annemarie Schmidt-Pfister: Orang-Utan-Baby Sirih wagt 1993 im Garten der Familie erste Kletterversuche. Bild: Christian R. Schmidt
ZEITREISE – Vor 30 Jahren wurde Orang-Utan-Dame Radia (†20) im Zoo Zürich von einem Besucher vergiftet. Die erst drei Monate alte Adoptivtochter Sirih musste daraufhin von Hand aufgezogen werden. Mittlerweile lebt Sirih in den USA und ist selbst zweifache Orang-Utan-Mutter.

Dominique Rais

Es ist der 20. März 1993. Der Zoo Zürich ist an jenem Samstagnachmittag vor 30 Jahren gut besucht. Andrang herrscht damals auch im Menschenaffenhaus. Denn bei den Sumatra-Orang-Utans hatte es nur wenige Monate zuvor Nachwuchs gegeben. Mit Sirih kam am 7. Dezember 1992 die erste gemeinsame Tochter von Orang-Utan-Mutter Jane (damals 10) und Pongo (damals 33), dem Oberhaupt der zwölfköpfigen Orang-Utan-­Gruppe, zur Welt. Jedoch liess Jane die kleine Sirih von Anfang an nicht saugen.

Mit der ranghohen Orang-Utan-Dame Radia (†20), zu diesem Zeitpunkt bereits zweifache Mutter, fand das verstossene Orang-Utan-­Mädchen glücklicherweise aber eine fürsorgliche Adoptivmutter, die sich um Sirih kümmerte, als wäre sie ihre eigene Tochter. Sie teilten ein ähnliches Schicksal: Denn auch Radia wuchs ohne leibliche Mutter auf. Doch das Glück von Ziehmutter und Zögling sollte nicht von Dauer sein.

Ziehmutter im Zoo Zürich vergiftet

Am 20. März 1993 kommt es im Aussen­gehege des Menschenaffenhauses im Zoo Zürich zur Tragödie. An jenem Samstagnachmittag wird Orang-Utan-Ziehmutter Radia von einem Unbekannten mit ­einem Giftköder vergiftet. Mit Sirih im Arm zieht sich Radia auf einen Baum zurück. «Um 15.00 Uhr ist es passiert: Sie bekam Krämpfe und hatte Schaum vor dem Maul», schilderte der damalige Zürcher Zoodirektor Alex Rübel gegenüber der NZZ den Vorfall.

Als ihre Kräfte nachlassen, stürzt sie vor den Augen zahlreicher Zoobesucher rund sechs Meter in die Tiefe und begräbt Sirih unter sich. Das Affenbaby überlebt. Doch für Adoptivmutter Radia kommt trotz des umgehend aufgebotenen Tierarztes jede Hilfe zu spät.

  • Vor 30 Jahren: die kleine Sirih mit Adoptivmutter Radia im Zoo Zürich. Bild: NZZ-Zeitungsausschnitt, April 1993
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  • An der Seite von Annemarie Schmidt-Pfister: Orang-Utan-Baby Sirih wagt 1993 im Garten der Familie erste Kletterversuche. Bild: Christian R. Schmidt
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  • Ein Dreiviertel Jahr nach Radias Tod kehrte die mittlerweile ein Jahr alte Sirih an Weihnachten 1993 zurück zu ihren Artgenossen in den Zoo Zürich. Bild: Christian R. Schmidt
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  • Seit Sommer 2014 lebt Sirih im Zoo Indianapolis in den USA. Bild: Zoo Indianapolis
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  • Kurz nach der Geburt im März 2016: Sirih mit Tochter Mila. Bild: Zoo Indianapolis
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«Innert einer Viertelstunde war sie tot», so der einstige Zoo-Direktor. Noch gleichentags kommt die kleine Sirih in die Obhut der Familie des damaligen Vize-­Zoodirektors Christian R. Schmidt nach Küsnacht. Das Menschenaffenkind wird fortan von Annemarie Schmidt-­Pfister, der Frau des Vize-Zoo­direktors, mit dem «Schoppen» grossgezogen. Sirihs tragisches Schicksal berührt die ganze Nation. Über Nacht wird das Affenbaby zum Medienstar.

Vom Baby zur stattlichen Affendame

Während Sirih in den darauffolgenden Monaten im Garten der Familie Schmidt am Küsnachter Horn ihre ersten Kletterversuche wagt, dauern die Untersuchungen des Instituts für Rechtsmedizin zu Radias Todesursache weiter an. Ein halbes Jahr nach dem tödlichen Giftanschlag im Zoo Zürich steht fest: Radia wurde mit einem hierzulande weder hergestellten noch zugelassenen Insektizid vergiftet.

Ein Dreiviertel Jahr nach Radias Tod kehrte die mittlerweile ein Jahr alte Sirih an Weihnachten 1993 zurück zu ihren Artgenossen in den Zoo Zürich. Nachdem Vize-Zoodirektor Schmidt 1994 seine Stelle als neuer Direktor des Frankfurter Zoos in Deutschland ange­treten hatte, folgte ihm Sirih 1995 als «Geschenk» des Zürcher Zoodirektors Rübel. Im April 2003 wurde Sirih erstmals Mutter und brachte Tochter Jahe zur Welt. Vater des Orang-Utan-Nachwuchses war Clanchef Charly (damals 46). Er starb 2014 im Alter von 57 Jahren als ältester Orang-Utan der Welt.

Zwei Monate zuvor, im August 2014, wurde Sirih per Frachtmaschine in die USA übergesiedelt, um fortan im Indianapolis Zoo zu leben. Der Grund: Sirihs Gene waren zu diesem Zeitpunkt in Europa bereits überrepräsentiert. Zudem hatte sie wegen etlicher «Ausbruchversuche», wegen denen der Zoo einen Sicherheitsmann vor ihrem Gehege postieren musste, für Schlagzeilen gesorgt. Im März 2016, nach eineinhalb Jahren im Indianapolis Zoo, brachte die damals 23-jährige Sirih ihre zweite Tochter Mila zur Welt.

Erst vor wenigen Monaten feierte Sirih ihren 30. Geburtstag. Nachdem ihr Vater Pongo (†44) bereits 2005 im Zoo Zürich starb, ist im Januar nun auch ihre leib­liche Mutter Jane (†39) an den Folgen
einer Nieren­erkrankung gestorben. Sie hatte seit 1996 als Mitglied einer Orang-Utan-Gruppe im französischen Zoo de La Boissière du Doré nahe Nantes gelebt.

Die genauen Gründe für den Gift­anschlag auf Ziehmutter Radia vor nunmehr 30 Jahren sind bis heute ungeklärt.

Zeitreise: eine historische Serie

Die historische Serie «Zeitreise» taucht ein in Zürichs Vergangenheit und greift die Geschichten von Menschen und geschichtsträchtigen Ereignissen längst vergangener Tage auf.

Haben Sie historisches Bildmaterial ? Dann senden Sie eine E-Mail mit dem Betreff «Zeitreise» und Ihren Fotos an: dominique.rais@lokalinfo.ch

Dominique Rais