Karin Steiner
Seit dem Internationalen Frauentag, 8. März, beleben 29 identische, von Künstlerinnen und Künstlern nach dem Motto «Gleich – Die Schweiz auf dem Weg zur Gleichstellung» individuell gestaltete Figuren die Bahnhofshalle im HB. Sie alle haben sich auf unterschiedliche Art und Weise mit den Themen Gleichstellung und Gleichwertigkeit auseinandergesetzt. Initiiert wurde die Ausstellung von Advance, dem Wirtschaftsverband für Gleichstellung in der Schweiz, und finanziert von 28 Sponsorenfirmen, die Advance angehören.
Mutterschaft, Kunst und Beruf
Eine der ausstellenden Künstlerinnen ist die 32-jährige Laura Herter aus Albisrieden. «Ich habe mich bei dieser Arbeit intensiv mit dem Thema Vereinbarkeit von Mutterschaft, Erwerbstätigkeit und Kunstproduktion auseinandergesetzt», sagt die Mutter einer 3-jährigen Tochter und betrachtet die Skulptur, die noch im Entstehen ist und die sie «Savage Daughter» nennt. Verschiedene Mutter-Kind-Szenen, mit wenigen Strichen dargestellt, zieren das riesige Gewand der vorgegebenen Figur. Auch Themen wie Geburt oder Stillen scheut sich Laura Herter nicht darzustellen. «Damit stosse ich nicht überall auf positives Echo», bemerkt sie schmunzelnd.
Savage Daughter muss balancieren
Hinter ihrer Figur steht auch eine Geschichte: «Die Mutterfigur Savage Daughter balanciert zwischen der Familie, ihrer künstlerischen Arbeit und der Erwerbstätigkeit. Sie blickt trotz Mutterschaft und Job auf eine kometenhafte Karriere in der Kunstwelt zurück und darf zukünftig die Rolle als Angestellte aufgeben. Mit dem Verkauf ihrer Werke, der Teilnahme an Ausstellungen und ihrem Repertoire an namhaften Galerien ist sie in der Lage, sich und ihre Familie zu finanzieren. Was niemand weiss: Sie konsumiert täglich eine eigens hergestellte, leistungssteigernde Pille, die sie nicht mehr schlafen lässt. Dadurch ermöglicht sie sich mehr betreuungsfreie Zeit, um ihre Karriere voranzutreiben», schildert sie die Geschichte.
Als Laura Herter die Ausschreibung für die Kunstausstellung im HB sah, bewarb sie sich spontan, obwohl sie wusste, dass diese Teilnahme den Balanceakt zwischen Beruf und Familie für sie noch zusätzlich erschweren würde. «Das war mein Thema. Ich will aufzeigen, wie schwierig es für Frauen nach wie vor ist, Beruf und Kind unter einen Hut zu bringen.»
Laura Herter hat sich ganz bewusst für ein Leben als Künstlerin entschieden. Obwohl sie sich schon immer privat künstlerisch betätigt hatte, absolvierte sie Gymnasium und Hotelfachschule, bevor sie an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) ein Studium für bildende Kunst mit den Schwerpunkten Malerei, Zeichnen und Fotografie in Angriff nahm. «Das war eine ganz tolle Zeit», sagt sie. «Ich konnte mich eigenen Projekten widmen und mich darin vertiefen.» Schon während des Studiums arbeitete sie als Kulturvermittlerin im FIFA-Museum, bereitete Inhalte für Kinder und Jugendliche auf und machte Führungen und Workshops. Diesen Job behielt sie auch nach Abschluss des Studiums, doch als 2019 ihre Tochter geboren wurde, änderte sich alles. «Ich musste meine Identität neu finden. Ich kündigte meinen Job und blieb mit unserem Kind zu Hause, weil ich mir nicht vorstellen konnte, die Kleine abzugeben.»
Mütter im Abseits
Nach einem Jahr kehrte sie in den alten Job zurück. «Aber alles war schwierig geworden. Ich war nicht mehr so flexibel wie zuvor, konnte nicht einfach Überstunden machen, weil ich die Kleine in der Spielgruppe abholen musste.» Sie fand einen neuen Job beim Zürcher Brautmodelabel piqyourdress, den sie bis heute bekleidet. «Meine Arbeit in den Bereichen Marketing, Content und Social Media ist sehr kreativ und abwechslungsreich. Wir sind ein reines Frauenteam und es herrscht ein besonders effizientes und inspirierendes Arbeitsklima.»
Schwierige Findungsphase
Schon während der Schwangerschaft begann sich Laura Herter künstlerisch intensiv mit der Frage auseinanderzusetzen, was mit der eigenen Identität geschieht, wenn man Mutter wird. Wie kann man sich als Frau neu positionieren? «Dieses Thema war für mich sehr zentral. Es war eine zweijährige, schwierige Findungsphase.»
Mit Erstaunen stellte sie fest, dass die Rollen von Vätern und Müttern in der Kunst nur sehr wenig reflektiert werden. «Im Verlauf des Studiums spürte ich die verbreitete Meinung, dass Kunst und Mutterschaft nicht vereinbar sind. Eine Künstlerin soll für die Kunst leben – ganz oder gar nicht. Es ist auffallend, dass es in der Kunst sehr wenige Mütter gibt. Für Künstlerinnen kommt meist noch erschwerend hinzu, dass sie neben Kind und Kunst auch noch arbeiten müssen, um Geld zu verdienen.» Zudem sei festzustellen, dass in Galerien und Ausstellungen allgemein wesentlich mehr Werke von Männern als von Frauen zu sehen seien, obwohl es in etwa gleich viele Kunstschaffende gebe.
Neue Erfahrungen einbringen
«Es stimmt nicht, dass Kind und Kunst nicht vereinbar sind. Mütter haben trotz Kind fruchtbare Ideen und dank der Mutterschaft ganz viele neue Erfahrungen, die sie in ihre Werke einfliessen lassen können.» Laura Herter jedenfalls ist trotz Kind fast täglich künstlerisch tätig. Abends, wenn das Kind schläft, skizziert sie ihre Ideen zu der für sie brennenden Frage von Vereinbarkeit von Mutterschaft, Beruf und Berufung mit Bleistift auf einen Block, überträgt die Zeichnungen aufs iPad und lässt sie auf Metall drucken. «Ich mache auch viele Auftragsarbeiten und zeichne zum Beispiel Familien.»
Mit ihrer Skulptur an der Ausstellung im Zürcher HB, die noch bis 22. März dauert, hofft sie, dass auch die Welt der Wirtschaft die Augen vor dem komplexen Thema der Vereinbarkeit von Beruf und Mutterschaft nicht verschliesst.