Jeannette Gerber
Der grösste Teil der sukkulenten Pflanzen stammt aus Gebieten, deren Geschichte von kolonialen Herrschaften geprägt ist. Es ist kein Geheimnis, dass die Schweiz, obwohl sie keine Kolonien besass, wirtschaftlich und ideologisch an der Kolonialisierung beteiligt war.
Im Rahmen der städtischen Ausstellung «Blinde Flecken Zürich und der Kolonialismus» fand kürzlich eine Führung in der Sukkulenten-Sammlung Zürich statt, um den Zusammenhang zwischen Pflanzenjagd und Wissenschaft zu erklären. Felix Merklinger, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Kurator und Botaniker, zeigte anhand sukkulenter Pflanzen, wie eng koloniales Denken und Handeln mit der botanischen Wissenschaft verflochten sind.
«Die 92-jährige Zürcher Sukkulenten-Sammlung ist nur indirekt mit dem Kolonialismus verbunden, nicht wie zum Beispiel die botanischen Gärten in Berlin oder in London, welche Dreh- und Angelpunkt waren. Dennoch haben wir viele Pflanzen, die in Verbindung zum kolonialen Schaffen stehen und die aufzuarbeiten unsere Pflicht ist», erzählte Kurator Merklinger. Er erklärte dem Publikum mithilfe von Illustrationen einige Beispiele von vom Kolonialismus betroffenen Pflanzen. Das erste Bild zeigte eine Aloe vera, die von Conrad Gessner, einem universalgelehrten Botaniker gezeichnet wurde. Er erklärte: «In der Renaissance wurden die Naturwissenschaften vor dem Hintergrund des theologischen Rationalismus gefördert. Wissenschaft, Entdeckergeist und Handel wurden durch die Missionierung der sogenannten ‹Neuen Welt› nach der ‹Entdeckung Amerikas› von der Kirche und speziell von Papst Alexander VI 1493 in einem Dekret legitimiert.»
Betörenden Duft schnuppern
Weiter ging es zur Vanille: Diese sei eine sukkulente Orchidee und komme ursprünglich aus Zentralamerika. «Sie lebt im Regenwald als Aufsitzerpflanze (Epiphyt) und bezieht ihre Feuchtigkeit durch Luftwurzeln aus der Atmosphäre. Sie kam vermutlich im sogenannten ‹Columbian exchange›, dem Handel mit Nutzpflanzen zwischen Europa und den Kolonien, hierher. Genauso wie Tomaten und Kartoffeln», sagte Merklinger. Dabei liess er die Teilnehmenden am betörenden Duft einer Vanilleschote schnuppern.
Nun zu den Cochenille-Schildläusen: «Sie werden auf dem Feigenkaktus gezüchtet. Aus ihnen wird echtes Karminrot gewonnen. Der rote Farbstoff (E120) wird in der Kosmetik und in der Lebensmittelindustrie verwendet, zum Beispiel in Lippenstift, Gummibärchen und früher auch im Campari bitter», schilderte Merklinger. Der Feigenkaktus sei in Zentralamerika zu Hause und werde seit Jahrtausenden genutzt. «Die spanischen Invasoren haben den Anbau intensiviert und sehr viel Geld mit Cochenille verdient. Dieses edle Rot konnten sich in Europa nur Reiche und Adelige leisten», fuhr Merklinger fort. «Dem französischen Arzt und Botaniker Nicolas Joseph Thierry de Ménonville gelang es, Opuntientriebe mit Läusen aus Oaxaca (Mexiko) herauszuschmuggeln. Und so ist es zum Anbau in Europa gekommen», fügte er an. Dabei demonstrierte er in einem Schälchen die wundersame Verwandlung von getrockneten Schildläusen in prächtiges Karminrot.
Monsterkaktus älter als Sammlung
Auf einer weiteren Skizze war die «Amerikanische Aloe» abgebildet. «Richtigerweise handelt es sich aber um eine amerikanische Agave und hat nichts mit einer Aloe zu tun. Agaven kommen aus Amerika, Aloen aus Afrika. Damals waren Agaven in Europa noch weitgehend unbekannt, und indem die Wohlhabenden sie in ihren Orangerien und Lustgärten präsentierten, konnten sie ihren Einfluss und ihr Geld zur Schau stellen. Das Bild zeigt übrigens eine Agave in Blüte im Schloss Gottorf in Norddeutschland im Jahr 1705», schloss er.
Zum Schluss der Führung zeigte Felix Merklinger auf den Monsterkaktus. Dies sei die älteste Pflanze der Sukkulenten-Sammlung und existiere wahrscheinlich schon länger als die Sammlung selbst, also mindestens 92 Jahre. «Dieser Kaktus hat einen genetischen Defekt und bildet sogenannte Cristate, kammförmig aufgefächerte Triebspitzen. Solche Pflanzen sind auch heute noch von Sammlern weltweit begehrt. Dieser Kaktus steht stellvertretend für die Gründung der Sukkulenten-Sammlung», so Merklinger.
Nach diesem Vortrag mit profundem botanischem und historischem Wissen darf wohl gesagt sein: Felix Merklinger hat im Namen der Sammlung seinen Teil zur Wiedergutmachung geleistet. Dieses pflanzliche Kulturgut kann nicht wie die Kunstgegenstände ins Ursprungsland zurückgegeben werden. In diesem Fall geht es um moralische Restitution, um die Aufarbeitung und somit um die Kenntnisnahme der Ausbeutung durch die Kolonialisten. Das Unrecht anzuerkennen ist immerhin ein Anfang.