Home Region Sport Magazin Schweiz/Ausland
Zürich Nord
07.07.2023
07.07.2023 08:26 Uhr

Wie sich Ukraine-Flüchtlinge bei uns zurechtfinden

Die 39-jährige alleinerziehende Mutter Roksolana Isaeva lebt aktuell mit ihrem 14-jähriger Sohn Tymofiy in Seebach.
Die 39-jährige alleinerziehende Mutter Roksolana Isaeva lebt aktuell mit ihrem 14-jähriger Sohn Tymofiy in Seebach. Bild: Jeannette Gerber
Roksolana Isaeva lebte zusammen mit ihrem inzwischen 14-jähriger Sohn Tymofiy in der Nähe von Kiew, als Russland die Ukraine attackierte. Als Bomben in der Nachbarschaft einschlugen, entschieden sie sich für die Flucht. Nun haben sie sich in Seebach gut eingelebt.

Seit mehr als einem Jahr zeigen die Medien verheerende Bilder aus der von Russland attackierten Ukraine. Doch beim Anblick dieser Bilder ist das grenzenlose Elend, das die Menschen dort erleben, nicht im Entferntesten nachvollziehbar. Diese Zeitung durfte durch die Vermittlung des katholischen Hilfswerks Caritas Zürich eine kleine geflüchtete ­ukrainische Familie – Mutter und Sohn – kennen lernen und wollte von ihnen wissen, was sie seit dem Ausbruch dieses ­unsäglichen Krieges erlebten, wie die Flucht verlief und wie sie schliesslich in die Schweiz gelangten. Die 39-jährige alleinerziehende Mutter, Roksolana Isaeva, lebt heute zusammen mit ihrem inzwischen 14-jähriger Sohn Tymofiy (genannt Tim) in einer modernen 3-Zimmer-Wohnung in Seebach.

In den Pyjamas weggerannt

Und so schilderte sie ihr Leben nach dem Angriff der Russen: «Wir lebten in der kleinen Stadt Bila Tserkwa («Weisse Kirche») in der Region Kiew. Am 23. Februar 2022 morgens um fünf Uhr erhielt ich einen Anruf von der Mutter eines Schulkameraden meines Sohnes. Sie riet mir dringend, sofort die Stadt zu verlassen und auf dem Land bei Bekannten Zuflucht zu suchen, da die Russen die ­Ukraine attackiert hätten. Ich wollte das nicht glauben, doch nach dem ersten Bombeneinschlag in der Nachbarschaft am nächsten Tag rannten wir in Pyjamas zu den Eltern meines Ex-Mannes, wo wir bis am Abend blieben. Dann flüchteten wir zusammen mit meiner Mutter und ihrem Ehemann in ein Sommerhaus in der Nähe.»
Nach zwei Wochen habe sie sich schweren Herzens – gegen den Willen der Familie – entschieden, die Flucht zu ergreifen. «Zu fünft machten wir uns per Auto auf den Weg. Natürlich immer die Angst im Gepäck. Angst auch davor, dass das Inhalationsgerät von Tim wegen Stromausfall nicht angeschlossen werden konnte», fuhr Roksolana Isaeva fort. Tim sei Asthmatiker und auf dieses Gerät angewiesen. Auch der Gang zur Apotheke sei zu gefährlich gewesen, da überall Kontrollposten lauerten. Man konnte sich nie sicher sein, ob es sich um Russen oder Ukrainer handelte. Und überhaupt seien die meisten Medikament in den Apotheken sowieso ausverkauft gewesen. «Dann ging die Reise zu siebt in einem Privattaxi weiter über die Grenze bis zum Flughafen Budapest. Schliesslich verliessen wir Ungarn am 6. März per Flugzeug in Richtung Basel», erzählte sie weiter.

Herzlicher Empfang in Thayngen

Bevor sie in der Schweiz landeten, suchte Roksolana Isaeva mit der eigens dafür eingerichteten App icanhelp.host einen Gastgeber und fand eine junge Familie mit drei Kindern aus Thayngen SH. Sie wurden am Flughafen von ihnen herzlich empfangen und während einer ­Woche in einem ihrer Zimmer untergebracht. Was auf die Länge jedoch nicht zumutbar war, da das kleinste Kind erst 7 Monate alt und die Mutter wieder schwanger war, sodass die Familie selbst den Platz brauchte.
Ebenso mithilfe der App fand sie ein Ehepaar mit drei erwachsenen Söhnen und einem grossen Haus in Seebach, wo sie und ihr Sohn ein Jahr und zwei Monate leben durften. Obwohl Emily und David ausgesprochen nett und hilfsbereit waren, wollte Isaeva doch ein eigenes ­Zuhause. Nach intensiver Suche ging die Odyssee endlich zu Ende und sie bezogen diese sonnige und helle Wohnung in Seebach in einer Siedlung der Baugenossenschaft Glattal Zürich (BGZ). Finanziell wird sie weiterhin von der Asyl-Organisation Zürich (AOZ) unterstützt.
Auf ihre Empfindungen angesprochen, wollte und konnte Isaeva sich nicht äussern; zu schwer sei es gewesen, die Heimat zu verlassen. Aber das Wichtigste für sie und Tim sei das Überleben. Angst und Phobie begleiten sie jedoch weiterhin täglich. «Die Hauptsache ist, dass das Leben hier funktioniert», erklärte sie. Es folgte der Satz «Alles wird gut!», den sie im Laufe des Gesprächs öfters zitierte. Es scheint, als fände sie in diesem Satz einen Halt.

Ein ausgezeichnetes Deutsch

In der Ukraine war Roksolana Isaeva als Lehrerin an der Pädagogischen Hochschule tätig. In einem Zweitjob arbeitete sie als Heilpädagogin für Kleinkinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen. In der Schweiz angekommen, half sie am Anfang online den Studierenden in der Ukraine, sich auf ihr Diplom vorzubereiten. In Zürich fand sie dann eine ukrainische Schule, wo sie als Lehrerin 5- bis 6-jährige Kinder während vier Monaten in ukrainischer Sprache unterrichtete. Seit Februar 2023 ist sie Lehrassistentin an der Milchbuck-Schule. «Leider ist das nur ein 20-Prozent-Job», bedauerte sie. «Schulleiter und Lehrpersonal sind mega nett, sehr professionell, und die Atmosphäre ist grossartig. Ich geniesse diese Arbeit», betonte sie. Sie spricht übrigens schon ein ausgezeichnetes Deutsch. Das habe sie dem täglichen Intensivkurs seit letztem November zu verdanken.
Dank ihrem offenen und kontaktfreudigen Wesen hat die junge Frau schon einige Freundinnen in Zürich und in der Siedlung gefunden. Auch eine Russin sei dabei, die schon seit 10 Jahren in Zürich lebe. «Diese Menschen machen mich glücklich und geben mir Sicherheit», betonte sie. Auf die Frage, was ihr am besten an Zürich gefalle, antwortete sie: «Der Zürichsee ist so was wie mein Kraftort.» Auch Tim scheint es an der Schule Campus Glattal gut zu gefallen. Inzwischen hat sich sein Asthma stark verbessert. Das sei laut Arzt möglicherweise der Pubertät zuzuschreiben. Als Hobby hat er sich Taek­wondo ausgesucht, das er seit zwei Monaten praktiziert. «Ich werde wahrscheinlich bald den ersten Gürtel bekommen», meinte er nicht ohne Stolz.
Zum Schluss fügte die tapfere Ukrainerin hinzu: «Ich wünsche mir, dass meine Geschichte den Menschen hilft, den Glauben und die Hoffnung nicht zu verlieren und zu erkennen, dass wir auf dem Lebensweg immer gute Menschen treffen. Man muss immer an das Positive glauben und etwas tun, damit sich die Menschen in unserem Umfeld wohl fühlen. Alles wird gut!»

Jeannette Gerber