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Stadt Zürich
15.07.2023
15.07.2023 17:22 Uhr

Jede Zelle Wissbegier

J. J. Scheuchzers Schweizerkarte Nova Helvetiae tabula geographica (Ausschnitt); der rote Fleck unten links ist Zürich, darunter ein Zipfel des Zürichsees.
J. J. Scheuchzers Schweizerkarte Nova Helvetiae tabula geographica (Ausschnitt); der rote Fleck unten links ist Zürich, darunter ein Zipfel des Zürichsees. Bild: Zentralbibliothek Zürich
Ein Abstecher in den Irchelpark lohnt sich immer. Und wieso dann nicht gleich Bekanntschaft mit Johann Jakob Scheuchzer schliessen, einem der berühmtesten Zürcher Naturforscher?

Tobias Hoffmann

Die Scheuchzerstrasse ist eine der längsten Quartierstrassen im Kreis 6. Nicht allzu weit nordöstlich des Centrals und nordwestlich von ETH und Universitätsspital nimmt sie ihren Anfang und schlängelt sich durch fast ganz Unterstrass bis zum Irchelpark, wo sie bei der Nummer 223 endet. Benannt ist die Strasse nach der alteingesessenen Zürcher Familie Scheuchzer, denn sie wurde im 19. Jahrhundert über deren Güter geführt. Der berühmteste Vertreter der Familie ist Johann Jakob Scheuchzer, einer der berühmtesten Naturwissenschaftler, die ­Zürich je hervorgebracht hat. So erscheint es sinnhaft, dass die Scheuchzerstrasse zum Irchelpark hinführt, da ja ein Teil des Parks vom naturwissenschaftlichen Campus der Universität eingenommen wird.

  • J.  J. Scheuchzer, als Alpenforscher inszeniert, im Alter von etwa 36 Jahren. Bild: ETH-Bibliothek
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  • J.  J. Scheuchzer starb 1733 kurz nach seiner Ernennung zum Physikprofessor. Bild: Zentralbibliothek Zürich
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Natürlich spielt J. J. Scheuchzer im heutigen Wissenschaftsbetrieb keine Rolle mehr, er hat immerhin einige Jahrhunderte auf dem Buckel: 2022 jährte sich sein Geburtstag zum 350.   Mal – der wissenschaftliche Fortschritt hat ihn längst hinter sich gelassen. Aber angesichts seines runden Geburtstags haben sich Historiker und Naturwissenschaftler darauf besonnen, was für ein aussergewöhnlicher Forscher Scheuchzer gewesen ist: ein von nie ermüdender Wissbegier getriebener Universalgelehrter, der in einigen Disziplinen wesentliche Anstösse gegeben hat.

Tiefgläubiger Rationalist

Das neu erwachte Interesse an Scheuchzer mündete zum einen in einer 2022 publizierten Monografie von Urs B. Leu mit dem Titel «Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733). Pionier der Alpen- und Klimaforschung» und einer damit verknüpften Ausstellung in der Zentralbibliothek, zum anderen in einer «Naturwissen schaffen» benannten Ausstellung in der Universitätsbibliothek Naturwissenschaften auf dem Campus Irchel. Auf diese Ausstellung wollen wir hier fokussieren; sie präsentiert Scheuchzer in fast seiner ganzen ­Vielseitigkeit.

J.  J. Scheuchzer erforschte nicht nur die Natur des Alpenraums, sondern auch seine Kultur, Geschichte und Wirtschaft. Hier ein Senn bei der Käseproduktion. Bild: Zentralbibliothek Zürich

Grundlage aller Tätigkeit Scheuchzers war, das wird unmissverständlich klar, seine tiefe Gläubigkeit. Naturerkenntnis sah er als Mittel zur Gotteserkenntnis, die Natur verstand er, neben der Bibel, ebenfalls als Buch göttlicher Offenbarung. Das hielt ihn aber nicht von einem aufklärerischen Impetus ab, mit dem er wundersame Naturerscheinungen entmystifizierte. Und es verhinderte auch nicht, dass er von den Vertretern des orthodoxen Christentums in Zürich Mal für Mal an seiner Karriereentfaltung gehindert wurde. Dennoch brachte er es schliesslich zum Stadtarzt und, leider erst im Jahr seines Todes, zum Physikprofessor.

Zwölf Reisen in die Alpen

Ein Schwerpunkt der Ausstellung ist Scheuchzers Feldforschung in den Schweizer Alpen gewidmet. Im Rahmen der zwölf Reisen, die Scheuchzer zwischen 1694 und 1711 unternahm, beschäftigte er sich mit verschiedensten Disziplinen: von Flora und Fauna über Geologie, Mineralogie, Paläontologie und Hydrologie bis zu Geschichte, Wirtschaft und Kultur. Ein 1708 von ihm in London veröffentlichtes Werk mit Zwischenergebnissen trug dazu bei, dass man in England die Alpen als exotisches Sehnsuchtsland und als aufregende Reisedestination zu entdecken begann.

  • Aus J. J. Scheuchzers Originalherbar: «Eryngium alpinum» (Alpenmannstreu). Bild: ETH-Bibliothek
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  • Der Riesensalamander «Andrias scheuchzeri» wurde nach J. J. Scheuchzer benannt. Bild: Zentralbibliothek Zürich
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Die Vielfalt der Fächer verlangte von Scheuchzer eine methodische Wendigkeit, die zu einigen wissenschaftlichen Pionierleistungen führte. Zum Beispiel entwickelte er sich im Zuge der Auswertung der von ihm gesammelten Fossilien zu einem Pionier der Paläontologie. Aufbauend auf einer englischen Vorstudie, erkannte Scheuchzer, dass Fossilien versteinerte Überreste von Tieren und Pflanzen waren und nicht etwa Bizarrerien der Natur. Allerdings brachte er die Entstehung der Fossilien mit der biblischen Sintflut in Verbindung, konnte sich also noch nicht die vollständigen geologischen Zusammenhänge erschliessen.

Neu kartografierte Schweiz

Als Botaniker leistete Scheuchzer ebenfalls viel, wenn auch sein nicht so vielseitiger Bruder Johannes in Insiderkreisen wohl noch anerkannter war. Eine weitere Frucht seiner Alpenreisen war eine Karte der Schweiz, die gegenüber den Vorgängern deutliche Fortschritte zeigte, obwohl Scheuchzer als Kartograf ohne grosse Ressourcen auskommen musste und nicht auf der Höhe der damals schon möglichen Vermessungsmethoden (Triangulation) arbeiten konnte.

Schliesslich versäumt es die Ausstellung nicht, Scheuchzer als bedeutenden Begriffsschöpfer auszuweisen: In seinem populärwissenschaftlichen Werk «Physica. Natur-Wüssenschafft» (1701) «erfand» er den Begriff Naturwissenschaft und wurde damit, so die Ausstellungsmacher schmunzelnd, «zum Namensgeber unseres Bibliotheksstandortes».

Mit dem Werk «Physica. Natur-Wüssenschafft» hat J. J. Scheuchzer den Begriff Naturwissenschaft in die Literatur eingeführt. Bild: Zentralbibliothek Zürich

Weitere Informationen und Öffnungszeiten:

www.ub.uzh.ch/de/ueber-die-ub/news/ausstellung-scheuchzer.html

Tobias Hoffmann