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Kultur
29.08.2023
30.08.2023 15:57 Uhr

Wenn Malerei und Poesie eins werden

Das Werk «Bootsausflug» aus dem Album «Landschaften und Gedichte» von Künstler Gu Shanyou ist auf 1639 datiert.
Das Werk «Bootsausflug» aus dem Album «Landschaften und Gedichte» von Künstler Gu Shanyou ist auf 1639 datiert. Bild: Geschenk Charles A. Drenowatz / Museum Rietberg, Zürich / Foto Rainer Wolfsberger
Das Zusammenspiel von Malerei und Dichtkunst ist typisch für die chinesische Landschaftsmalerei. Das Museum Rietberg zeigt aktuell Bilder des 17. bis 19. Jahrhunderts aus der Sammlung Charles A. Drenowatz. Die Ausstellung ist noch bis 10. September zu sehen.

Schon im 11. Jahrhundert sprachen die Künstler von Malerei als «Poesie ohne Worte» und von Gedichten als «Gemälde ohne Formen»: Das Zusammenspiel von Malerei und Dichtkunst ist typisch für die chinesische Landschaftsmalerei. Mit der Zeit wurde Poesie zu einem integralen ­Bestandteil der Malerei. Die Ausstellung «Poesie im Pinselstrich – Malerei und Dichtung in der Kunst Chinas» im Museum Rietberg zeigt Bilder des 17. bis 19. Jahrhunderts aus der Sammlung Charles A. Drenowatz. Sie übersetzt die Aufschriften und entschlüsselt deren Bedeutung. So werden die kleinen Landschaftsszenen in einen ganzen Kosmos von persönlichen und kulturellen Bezügen eingebettet.

Die poetischen Zeilen auf den Bildern sind häufig von den Malern – und den wenigen Malerinnen – selbst verfasst. Einerseits führen sie über das Bild hinaus und bereichern das Seherlebnis durch weitere Sinneserfahrungen, wie beispielsweise das Rauschen des Wassers oder das Flüstern des Windes, die Kälte des Herbstes oder das sanfte Licht des Mondscheins. Sie machen damit das Bild zu einem sinnlichen Gesamterlebnis. Anderseits vermitteln sie eine Vielzahl von Bezügen: von persönlichen Gefühlen über Referenzen an grosse Vorbilder der Vergangenheit bis zu politischen Positionierungen.

Prosatexte in Bilder integriert

Schon seit Beginn des Genres dienten auch berühmte Gedichte und Prosatexte den Landschaftsmalern als Inspirationsquelle. Die ikonischen Texte waren in den Kreisen der gebildeten Oberschicht allgemein bekannt und so reichte schon ein Vers, um auf den Inhalt des gesamten Gedichtes zu verweisen. Die Bildaufschriften sind voll von solchen Zitaten und Anspielungen.

Der Kalligraf, Dichter und Maler Jin Nong (1687–1763) wählte für sein Album mit zwölf Blättern Oden und Prosatexte der bekanntesten Literaten des 4. bis 14. Jahrhunderts und integrierte sie in voller Länge in seine Bilder. Dabei füllen die Schriftzeichen den gesamten leeren Bildraum aus, dringen bis in die Kompositionen hinein und erhalten so ein der Malerei gleichwertiges Gewicht. Nicht nur die starke Präsenz der Schriftwerke ist in diesen Blättern aussergewöhnlich. Auch mit seinem eigenwilligen, eckigen und archaisch wirkenden Schreibstil hat der exzentrische Künstler einen Kontrapunkt zur gängigen, übereleganten Kursivschrift seiner Zeit gesetzt. Mit dieser künstlerischen Ausdrucksform ist ein sozialpolitisches Anliegen verbunden. Viele Intellektuelle des 18. Jahrhunderts empfanden ihre Zeit als dekadent und beklagten den Werteverfall. Sie suchten Reformen durch eine Rückbesinnung auf das Altertum.

Landschaft war ein Sehnsuchtsort

Schon lange bevor die Landschaft im 10. Jahrhundert zum wichtigsten Thema der Malerei wurde, besangen die Dichter in China die Natur in ihren Werken. Die Naturerscheinungen galten als Manifestation der grundlegenden Prinzipien des Kosmos. Nur durch ein Eintauchen in die Natur und ein Verschmelzen mit ihr konnte diese höhere Ordnung verstanden werden. Daher zog es die Künstler und Gelehrten schon im 3. Jahrhundert hinaus in Berge und Täler. In ihren Gedichten schilderten sie ihre mystischen Erfahrungen und Erkenntnisse.

Gleichzeitig wurden die Naturerscheinungen zu Metaphern, mit denen die Künstler sowohl persönliche Gefühle als auch gesellschaftliche oder politische Botschaften ausdrücken konnten. Ein immer wiederkehrendes Motiv ist der integre Beamte, der sich – desillusioniert von den Intrigen und Machtkämpfen am Kaiserhof – in die Einsamkeit der Berge zurückzieht, um fernab von beruflichen Verpflichtungen und gesellschaftlichen Zwängen ein friedliches Leben im Einklang mit der Natur zu führen. Er wurde zur Identifikationsfigur unzähliger Intellektueller bis ins 20. Jahrhundert hinein.

In politisch chaotischen Zeiten versprach der körperliche oder geistige Rückzug einen Weg, angesichts des ewigen Kreislaufs der Natur Trost und Frieden zu finden. Dieses Thema liegt auch vielen der gezeigten Alben zugrunde. Die Künstler kommentieren die Wirren ihrer Zeit: sei es der Zusammenbruch der Ming-Dynastie im frühen 17. Jahrhundert, die Eroberung Chinas durch die Mandschu wenige Jahre später oder der Verfall der chinesischen Zentralverwaltung angesichts des Drucks fremder Mächte im 19. Jahrhundert.

In seinem Album mit Landschaften und Gedichten verwebt der Künstler Gu Shanyou – tätig erste Hälfte 17. Jahrhunderts – auf subtile Weise verschiedene Text- und Bildebenen. Auf jedem Blatt illustriert er zwei Zeilen aus Gedichten seines bewunderten Patrons Fan Jingwen (1587–1644). Auf der gegenüberliegenden Seite des Albums hat er in flüssiger Kursivschrift Gedichte aus dem berühmten Zyklus «Herbstmeditationen» des grossen Tang-zeitlichen Dichters Du Fu (712–770) geschrieben. In den melancholischen Zeilen beklagt der in Ungnade gefallene und in den Süden verbannte Beamte nicht nur sein eigenes Schicksal, sondern auch den traurigen Zustand seines von Aufständen und Unruhen geplagten Vaterlandes.

Zweifellos stellt Gu Shanyou hier Pa­rallelen zu seiner eigenen Zeit her. Das korrupte System der späten Ming-Dynastie bedrohte viele loyale Gelehrte und Beamte. Auch Fan Jingwen, dem das Album gewidmet ist, war in Missgunst geraten und seiner Ämter enthoben. Die perfekte Gesellschaftsordnung wurde im traditionellen China nicht in einer unbestimmten Zukunft, sondern im klassischen Altertum lokalisiert. Daher kam in politischen Krisenzeiten immer wieder die Forderung auf, die Werte und die Kultur der idealisierten alten Zeiten wiederzubeleben – auch in der Malerei.

Mehr Infos zur Ausstellung im Museum Rietberg: www.rietberg.ch > Ausstellungen > Poesie im Pinselstrich

pd/Zürich24