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Stadt Zürich
01.10.2023
04.10.2023 11:44 Uhr

Die Tränen des Bundesrates und die Muttergefühle der Bloggerin

Kafi Freitag (rechts) rollt ein Filmplakat aus: «Top Gun» steht über der Fotomontage mit Alain Berset statt Tom Cruise im Cockpit.
Kafi Freitag (rechts) rollt ein Filmplakat aus: «Top Gun» steht über der Fotomontage mit Alain Berset statt Tom Cruise im Cockpit. Bild: Daniel J. Schüz
Hier das geschichtsträchtige «Café Boy»; dort der grüne Teppich des Zürcher Filmfestivals: Am Donnerstagabend, als Bundespräsident Alain Berset (SP) auf seiner Abschiedstournee Zürich besuchte, tauchte er in zwei Welten ein. Zürich24 hat ihn exklusiv begleitet – dort, wo er nicht im Fokus von Scheinwerfern und TV-Kameras stand.

Daniel J. Schüz

Das Staatsoberhaupt und die Lebensberaterin auf dem Talk-Podium in der Quartier-Beiz: Geht gar nicht, möchte man auf den ersten Blick meinen. Bei näherer Betrachtung allerdings werden zwischen den ungleichen Gesprächspartnern bemerkenswerte Parallelen erkennbar: Bundespräsident Alain Berset (SP) und Instagram-Star Kafi Freitag – das sei kein Pseudonym, beteuert die 48-jährige Podcasterin, sondern ihr richtiger Name – erweisen sich auf dem diplomatischen Parkett wie im digitalen Netz als schillernde Paradiesvögel, denen keine Extravaganz abhold ist.

Der Landesvater mischt sich gern an der Street Parade mit einer knallroten Federboa unter die Raver, während die Menschenfreundin vor der Live-Kamera am Steuer erklärt, warum sie so gerne Auto fährt. Via Podcast und auf Instagram räsoniert sie in ihrer «Frag Frau Freitag»-Kolumne über Sex, Kids und Tipps für alle Lebenslagen.

Als Andrea Sprecher, SP-Generalsekretärin für Stadt und Kanton Zürich, vor zwei Wochen erfuhr, dass Alain Berset zur Eröffnung des Filmfestivals nach Zürich kommen und sich auch für die Genossinnen und Genossen Zeit nehmen würde, war schnell klar, «dass wir ihn ins Café Boy einladen, in die genossenschaftliche Hochburg unserer Partei – und dass die Moderation dieses Anlasses eine Frau übernehmen soll, die nicht die üblichen Journalistenfragen stellt. Kafi Freitag ist weniger aufs politische Alltagsgeschäft fixiert, dafür nah am Puls der Menschen. Sie ist genau die richtige!»

«Man bucht Kafi Freitag, weil man Kafi Freitag will», kommentiert die Zürcherin das ungewöhnliche Angebot. «Und dann bekommt man auch Kafi Freitag!» Und da sitzen sie nun – die Gastgeberin, ausgestattet mit einem diskreten Headset, und der Bundesrat, der sich an seinem Handmikrophon festhalten muss. Er habe das nicht anders gewollt, wird Kafi Freitag später erklären.

Bundespräsident Alain Berset (links) und Instagram-Star Kafi Freitag – das sei kein Pseudonym, beteuert die 48-jährige Podcasterin, sondern ihr richtiger Name. Bild: Daniel J. Schüz

Harsche Kritik aus den Zeitungsspalten

Rasch hat sich die Gaststube gefüllt; weit über hundert Menschen sind gekommen, und immer mehr drängen durch die Tür. Kafi Freitag freuts: «Kommt nur herein!»

Ausgerechnet heute schlägt dem Gesundheitsminister aus den Zeitungsspalten harsche Kritik entgegen: Am Vortag hat Berset die Erhöhung der Krankenkassen-Prämien um 8,7 Prozentpunkte verkünden müssen. Was tun? Den Leistungskatalog kürzen? Die Franchisen erhöhen? Derlei Massnahmen zur Kostendämpfung seien «viel zu einfach». In all den Jahren sei es sein wichtigstes Ziel gewesen, die Leistungen nicht einzuschränken, fährt er fort und betont die Bedeutung des Krankenversicherungsgesetzes «als zentraler Pfeiler der Solidarität» für die Gesellschaft. Beim Patientendossier, das er nicht auf den Weg gebracht habe, «habe ich schon auch Fehler gemacht: Ich war zu nett, hätte sturer sein müssen und weniger Kompromisse machen dürfen.» Es gebe viel zu viele Interessenvertreter, beklagt Bersets die Macht von über hundert Lobbyisten, die im Parlament die massive Prämienerhöhung durchgesetzt haben: «In diesem Kartell des Schweigens werden die dringend notwendigen Massnahmen gedämpft.» «Da verliert man einmal», stimmt Kafi Freitag ihm kalauernd zu. «Und ein anderes Mal gewinnen die anderen ...»

Und sie leitet mit dem Bekenntnis «Ich hatte in jener Zeit ein engeres Verhältnis zu Ihnen als zu meinem damaligen Ehemann» das nächste Thema ein: die Corona-Krise. In den Jahren der Pandemie habe sie nämlich kaum eine der vielen Pressekonferenzen verpasst. «Da haben Sie bewiesen, dass Sie die Kunst beherrschen, unangenehme Nachrichten zu verkünden und heikle Situationen zu meistern.»

Seither rockt der erste Bundesrat, der einen eigenen Instagram-Account eingerichtet hat, mit mittlerweile 130'000 Followern, wobei ihm die Gefahren der Social Media und die Bedrohung, die diese für die traditionellen Medien bedeuten, durchaus bewusst sind: «Es herrscht eine ‹Click-tatur›, die es immer schwieriger macht, zwischen Fakten und Meinungen zu differenzieren; alles muss immer schneller gehen – auf Kosten der präzisen Analyse.»

Ob er nicht fürchte, will Kafi Freitag wissen, dass seine Posts ihm eines Tages peinlich werden könnten. «Auf keinen Fall», schmunzelt der Magistrat. Erst kürzlich habe er bekannt, dass er es auch schön finde, älter zu werden. «Meine Posts sind immer authentisch.»

In wenigen Wochen wird er mit 51 Jahren als jüngstes und zugleich dienstältestes Regierungsmitglied den Bundesrat verlassen. «Schon bei meiner Wahl habe ich gesagt, dass ich nicht länger als zwölf Jahre im Amt bleiben werde. Damals war ich 39 – und ich kam mir vor wie ein Säugling!»

«Wie schön», freut sich Kafi Freitag über den Steilpass, der sie zum spontanen Bekenntnis verleitet: «Sie rufen ja direkt Muttergefühle in mir wach! In den zwölf Jahren Ihrer Regierung habe ich zweimal geheiratet und mich zweimal scheiden lassen!»

  • In der genossenschaftlichen «Wirtschaft zum guten Menschen» war «der Alain» mittendrin im Volk. Bild: Daniel J. Schüz
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  • Bundesrat Alain Berset gab seinen Fans auch Autogramme. Bild: Daniel J. Schüz
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  • «Eine beeindruckende Begegnung», sagt Matthias Ackeret, Herausgeber der Zeitschrift «Persönlich» und Biograf des SVP-Moguls Christoph-Blocher. Bild: Daniel J. Schüz
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Bersets aviatische Eskapaden

Berset, der damals die Nachfolge der Aussenministerin Micheline Calmy-Rey (SP) angetreten hatte, hat vor wenigen Wochen vor der UNO-Generalversammlung eine kurze, aber bemerkenswert deutliche Rede zur geopolitischen Situation gehalten. Was Kafi Freitag zur Frage führt, ob er sich mit seinem diplomatischen Talent nicht auch für das Aussendepartement interessiert hätte. Da lacht Alain Berset: «Wissen Sie, als damals bei der Verteilung der Departemente klar wurde, dass ich Innenminister werden würde, habe ich vor Freude eine Flasche Champagner aufgemacht. Denn mein wichtigstes Anliegen als Politiker ist der direkte Kontakt zu den Menschen. Und den hat man nirgends so gut wie im Innendepartement!»

Während seine Worte in der «Wirtschaft zum guten Menschen» mit spontanem Applaus bedacht werden, überrascht Kafi Freitag mit einem grossen Filmplakat, das sie vor ihrem Gast ausrollt: «Top Gun» steht über der Fotomontage mit Alain Berset statt Tom Cruise im Cockpit. Und Kafi Freitag an seiner Seite. «Würden Sie mit mir nach St. Louis fliegen?», flötet die Bloggerin. Leicht verdutzt betrachtet der Bundesrat zuerst seine Gesprächspartnerin, dann das Bild.

«Ähm», sagt er – er sei halt mit dem Zug angereist ...

Mit dem Top Gun-Thema spielt Kofi Freitag auf Bersets aviatische Eskapaden an: «Ich habe das Plakat drei Stunden zuvor gestalten lassen, weil ich für meine Covid-Impfung nach St. Louis müsste; denn in der Schweiz gibt es keinen Impfstoff mehr. Da erinnerte ich mich an Bersets Irrflug vor einem Jahr nach Frankreich, als Jagdflieger ihn vom Himmel holen mussten, nachdem er mit seinem Sportflieger in eine militärische Sperrzone eingedrungen war. Aber ich würde niemals mit Berset fliegen wollen. Ich habe nämlich Flugangst und würde ihm nur das Cockpit vollkotzen ...»

«Ich vermisse Sie jetzt schon!», sagt Kafi nach einer guten Stunde. Es tönt wie eine schlecht verhohlene Liebeserklärung.

Ein Bad in der Menge nehmen

Alain Berset steigt vom Podest und tauscht sein Mikrofon gegen eine Stange Bier; er legt die Arme um die Schultern seiner Fans, lächelt für ein Selfie nach dem anderen und macht sich endlich auf den Weg zu dem schwarzen Van, der in diskretem Abstand wartet.

«Eine beeindruckende Begegnung», sagt Matthias Ackeret. Der Herausgeber der Zeitschrift «Persönlich», Biograf des SVP-Moguls Christoph-Blocher und wöchentliche Talkmaster auf «Tele-Blocher», ist einer der wenigen Journalisten vor Ort. «Ich habe seine Zusage für eine Reportage.»

Wenig später tritt Alain Berset an der Eröffnungsparty des Zürcher Filmfestivals ins Scheinwerferlicht. Er hat sich eine Krawatte umgebunden, einen Smoking übergezogen und erzählt vom ersten Film, den er als kleiner Bub gesehen hat: «Bambi hat mich zu Tränen gerührt.»

Daniel J. Schüz/Zürich24