Roger Suter
Manche Weltmeisterschaften ziehen mehr Publikum an als andere. Doch für die Teilnehmenden ist es in jedem Fall ein riesiger Aufwand, der sie auch an die eigenen Grenzen führen kann. Umso schöner, wenn die Mühe dann belohnt wird und man wie Raffaele Riniti mit einer Medaille heimkehren kann.
Es ist seine zweite; schon 2022 holte er Bronze an der OMC Hairworld im Rahmen der Messe Mondial Coiffure et Beauté. Ein erster Erfolg sei, überhaupt dabeigewesen zu sein, findet Riniti. «Wenn du ein zweites Mal teilnimmst, ist es aber schwieriger, besser zu werden. Aber man lernt, mit Stress und Emotionen umzugehen.» Er selber stand vergangenes Jahr kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Rückblickend habe er in diesen zwei WM-Jahren aber eine enorme Sicherheit erlangt. «Meine normale Arbeit fällt mir nun umso leichter.»
Umso überraschter reagierten manche (Neu-)Kunden, wenn sie für ihre Frisur einen ganz normalen Preis bezahlen müssen. «Warum sollte ich denn mehr verlangen?», fragt Riniti.
Hartes Training beim Champion
Das Auswahlverfahren für die Coiffeur-Nati, Casting genannt, ist streng. Aus den potenziell 17 000 Coiffeusen und Coiffeuren stellt Coiffure Suisse, der Verband Schweizer Coiffeurgeschäfte, jeweils ein Vierer-Team zusammen. Hinzu kommen weitere Spezialistinnen und Spezialisten für Kleidung, Make-up und Haar-Styling, denn am Schluss zählt der Gesamteindruck. Und nicht zuletzt sorgt ein Mentaltrainer dafür, dass nicht nur die Hände, sondern auch der Kopf optimal vorbereitet ist. «Wir haben vor jedem Wettbewerb fünf Minuten Mentaltraining absolviert», erzählt Riniti. «Ausserdem hatten wir ein Ritual, um uns darauf einzustellen.»
Im Dezember vergangenen Jahres wurden vom WM-Veranstalter die Vorgaben mitgeteilt: drei Haarfarben, die Art des Schnittes und einiges mehr. Daraus haben dann Raffaele Riniti und die drei anderen Teilnehmerinnen innert zweier Monate je ihre eigenen Kreationen entworfen. «Das geht schon Richtung Kunst», findet Riniti – etwas, das in seinem Beruf oft unterschätzt werde.
Während der WM-Vorbereitung arbeitete Riniti wie üblich von Dienstag bis Samstag in seinem Geschäft «Coiffeur Elle et Lui» an der Schwamendingenstrasse 10 in Oerlikon. Von Januar bis September trainierte er zudem zweimal pro Woche unter Anleitung von Enzo di Giorgio, dem Cheftrainer der Nationalmannschaft, der unter anderem in Glattbrugg einen Coiffeursalon betreibt und seinerseits Dutzende von Medaillen an Berufs-, Europa- und Weltmeisterschaften gewonnen hat. Direkt vor der WM am 10. und 11. September arbeitete Raffaele Riniti 41 Tage ohne einen freien Tag durch, verzichtete auf die Sommerferien. «Ich liebe meine Arbeit, sie ist mein Leben», so Raffaele, der sofort anfügt: «nach meiner Familie!» Tatsächlich habe die Familie für einige Zeit auf ihn verzichten müssen: Während der Vorbereitung stand er um 4 Uhr auf und ging ins Geschäft nach Oerlikon, um bis 8.30 Uhr, wenn der Salon öffnet, mit den genormten Übungsköpfen zu trainieren. «Abends bin ich zu müde für die Kleinigkeiten und Details, die es ausmachen», begründet Riniti diesen Arbeitsrhythmus.
Warum er dies alles auf sich genommen hat? «Ich bin jetzt 30 Jahre im Geschäft und habe eine neue Herausforderung gesucht.» Als Selbstständiger habe man ja keinen Chef, der einen anleitet, Tipps gibt oder auch mal rügt. «Ich wollte einfach wissen, wo ich beruflich stehe.» So habe er noch einmal grosse Fortschritte machen können und als erneut Lernender zudem viel für den Umgang mit seinen eigenen Lernenden mitnehmen können.
Start ohne Föhn
Wie läuft so eine Coiffeur-WM ab? In einer grossen, hell ausgeleuchteten Messehalle stehen Dutzende von Spiegeln, davor Ständer mit den langhaarigen Übungsköpfen. Kurz vor dem Wettbewerb haben die Teilnehmenden drei Minuten Zeit, um ihren Arbeitsplatz vorzubereiten. Und wenn das Startsignal ertönt, bleiben nur 30 Minuten für die Frisur, ehe die nächsten 50 Kandidierenden an der Reihe sind.
Doch als Riniti mit dem Föhnen beginnen will, bleibt sein Gerät still. «Das brachte mich schon etwas aus dem Konzept», so Riniti. «Ich dachte: Das wars wohl.» Doch die Kolleginnen hätten ihn angespornt, weiterzumachen, und die Jury gab ihm wegen der Strompanne zwei zusätzliche Minuten Zeit. Noch bei der Rangverkündigung glaubte er, dass er hier wohl keinen Blumentopf gewänne.
Und dann das: In seiner Kategorie «Senior Ladys Street Cut and Style» holt Raffaele Riniti die Silbermedaille, seine Teamkollegin Valentina Lauria sogar Gold. In der Kategorie «Senior Ladys Wave Style Long Hair» gewann Valentina Bircher Silber und Valentina Lauria den 6. Platz. In der Mannschaftswertung kam nochmals eine Bronzemedaille hinzu. «Das beweist, dass man als Coiffeur oder Coiffeuse an die Weltspitze kommen kann», so Riniti. Die Voraussetzungen der Schweizer Berufsbildung seien sehr gut.
Frisur aus dem Computer
Riniti liebt Herausforderungen aber auch im Alltag. Als er einmal mitbekam, wie Tochter Valeria, ebenfalls Coiffeuse, am Telefon kurz vor Ladenschluss ein paarmal «Es tut mir leid» sagte, wollte er wissen, was denn der Kunde gewollt hatte. Es war die Frisur einer Manga-Figur, jene Zeichentrickcharaktere, die in Japan sehr populär sind. «Ich rief ihn zurück und sagte, er solle herkommen, ich versuche es.» Falls der Kunde nicht zufrieden wäre, würde ihn der Schnitt nichts kosten. Der Kunde kam, zeigte ihm diesen am Computer entstandenen Kopf, liess sich während dreier Stunden frisieren – und bezahlte freudig. Heute ist er Stammkunde.
Nach diesen herausfordernden zwei Jahren will es Raffaele Riniti nun etwas ruhiger angehen, mehr Zeit mit der Familie verbringen, «Yoga statt Vollgas», sagt er. Ans Aufhören denkt der 51-Jährige aber nicht. «Solange ich körperlich kann, werde ich nicht aufhören – ich liebe meinen Beruf zu sehr.»