Home Region Sport Magazin Schweiz/Ausland
Stadt Zürich
08.12.2023
07.12.2023 14:49 Uhr

Die Allee der vielen Hindernisse

Blumentöpfe sind bei Weitem nicht das einzige Hindernis: Die Situation beim Restaurant Miss Miu am 27. November.
Blumentöpfe sind bei Weitem nicht das einzige Hindernis: Die Situation beim Restaurant Miss Miu am 27. November. Bild: Tobias Hoffmann
Ein System von Leitlinien und Führungselementen erleichtert Menschen mit Sehbehinderung die eigenständige Mobilität in der Stadt. Doch Unwissen und Unachtsamkeit gefährden es auf Schritt und Tritt, wie ein Beispiel an der Europaallee zeigt.

Tobias Hoffmann

Wenn Blinde oder Sehbehinderte aus ­ihrem Alltag erzählen, kann einem das die Augen öffnen. Vor einiger Zeit erschien in der «Wochenzeitung» ein Bericht über das Leben von drei Betroffenen, die über die vielen kleinen Tücken in ihrem Alltag Auskunft gaben. Eine von ihnen: Regula Schütz (58), die vor 30 Jahren erblindete. Augenöffnend ist diese Passage: «Auf dem Weg zum Bus stosse ich unsanft mit der Schulter an den Lenker eines Trottinetts, das auf dem Trottoir abgestellt wurde. Die Leitlinien helfen eigentlich sehr, stünden da nicht immer wieder Menschen, Gepäckstücke oder ­andere Dinge darauf.»

Leitlinien, so viel ist den meisten klar, das sind diese auf den Asphalt aufgebrachten weissen Streifen. Sie helfen sehbehinderten Menschen bei der visuell-­taktilen Orientierung. Man trifft sie in der ganzen Stadt an, häufig bei Fussgängerampeln und Haltestellen des öffentlichen Verkehrs. Und mehr öffentlicher Verkehr als beim Hauptbahnhof geht wohl kaum. Auch bei dessen «Hinterausgang», der Passage Sihlquai, findet man sie und gelangt, ihnen folgend, auf die hier platz­artig geweitete Europaallee.

Leitsystem für taktile Orientierung

Nach einigen Metern setzen sie sich fort: in Form eines gerillten Granitbands, das sich beidseits der Europaallee entlang der Häuserfassaden hinzieht und mit den beiden Gingkobaumreihen eine gestalterische Einheit bildet. Die Architektin Eva Schmidt, Leiterin der Schweizer Fachstelle für hindernisfreie Architektur, erklärt, was es damit auf sich hat: Als die Gestaltung der Europaallee als Begegnungszone mit Platzcharakter geplant wurde, galt es, die Abgrenzung zum befahrbaren Bereich ertastbar hervorzuheben.

Die Fachstelle hat die Planer beraten, «wie die Granitbänder taktil so verändert werden können, dass sie sich vom Asphalt abheben». Der Belagswechsel wurde so ein Führungselement, das Sehbehinderten als Orientierung dient. Die meisten jedoch dürften die Granitplatten für reine Gestaltungselemente halten, in typisch schweizerisch-minimalistischem Design.

  • Trotz Velotiefgarage in unmittelbarer Nähe: Ganz nahe beim Bahnhofsausgang ist der Weg für Sehbehinderte bereits verstellt. Bild: Tobias Hoffmann
    1 / 6
  • Kein grosses Hindernis, aber dennoch ein Zeichen von Unachtsamkeit: Eine Matte am falschen Ort. Bild: Tobias Hoffmann
    2 / 6
  • Achtlos beiseite gestellte Abschrankungen werden zur Sperre. Bild: Tobias Hoffmann
    3 / 6
  • Die Mobilität der einen ist die Einschränkung der anderen. Bild: Tobias Hoffmann
    4 / 6
  • Hier gibt es kein Durchkommen mehr, auch für Menschen ohne Behinderung nicht. Bild: Tobias Hoffmann
    5 / 6
  • Hier, beim Aufgang zum Negrellisteg, sieht man den Übergang von den Führungselementen zu den gewöhnlichen Leitlinien. Bild: Tobias Hoffmann
    6 / 6

Nur: Von Orientierung kann gegenwärtig keine Rede mehr sein. Würde sich eine sehbehinderte Person beim Ausgang der Sihlpassage nach rechts wenden, zum Beispiel, um zum Stadtspital Europaallee zu gelangen, wäre es nach wenigen Metern vorbei damit. Dutzende Velos stehen auf dem Granitband. Dabei befindet sich wenige Schritte entfernt eine Velotief­garage, die aber längst nicht ausgelastet ist, wie Mathias Ninck vom städtischen Sicherheitsdepartement erwähnt.

Dieser Zustand herrscht offenbar schon seit längerem. Das Tiefbauamt hat zwar laut Kommunikationschefin Evelyne Richiger mit Flyern und Plakaten darauf hinge­wiesen, dass das Abstellen hier nicht rechtens ist, doch ohne positiven Effekt. ­Richiger ergänzt, das Tiefbauamt könne keine Sanktionen aussprechen, und gemäss der Veloordnung von Entsorgung + Recycling Zürich (ERZ) dürften die Velos erst abtransportiert werden, nachdem sie 30 Tage lang nicht bewegt worden sind.

Ebenfalls ein Dauerzustand sind weiter vorne die pavillonartigen Kleinbauten, mit denen sich das Restaurant Miss Miu in den Strassenraum ausdehnt. Als das Bild links aufgenommen wurde, standen Pflanzentöpfe direkt auf dem Band. Dabei haben die Betreiber die Auflage, entlang der Führungselemente einen Gehbereich frei zu halten. Die Töpfe müssten entfernt werden, versichert Mathias Ninck; nach einem Hinweis durch die Stadtpolizei sei das auch bereits geschehen.

Ein Markt, der nicht mobil macht

Zum Teil massive Hindernisse gehen nun auch noch mit dem am 23. November eröffneten Weihnachtsmarkt («Zürcher Weihnachtsallee») einher. Die vielen Holzhüttchen schliessen da und dort direkt ans Granitband an, diverse Deko-Elemente wie Christbaumtöpfe verstellen es. An einer Stelle ist es komplett verrammelt. Laut Evelyne Richiger nimmt das Tiefbauamt anlässlich von Veranstaltungsgesuchen an den Begehungen teil. «Unsere Fachleute weisen die Veranstalter immer darauf hin», betont sie, «dass die Leitlinien frei bleiben müssen. Bei der Boulevardgastronomie das Gleiche.»

Die Europaallee sei, so Eva Schmidt, ein Brennpunkt vieler Interessen. Die Sicherheit und Orientierung für Menschen mit Sehbehinderung gelte es aber in jedem Fall zu gewährleisten. Im Moment scheinen deren Interessen allerdings ziemlich unter die Räder zu kommen. Und die Möglichkeiten zum Eingreifen der Stadt sind offenbar begrenzt. Mit Fotos der Situation konfrontiert, hält Martin Abele vom Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband jedoch fest: «Der Missstand muss aus unserer Sicht ganz klar behoben ­werden.»

  • Alles in allem sind achtlos abgestellte Zweiradfahrzeuge das grösste Problem. Bild: Tobias Hoffmann
    1 / 3
  • Die Kundinnen und Kunden stehen bei diesen Verkaufshüttchen direkt auf den Führungselementen. Bild: Tobias Hoffmann
    2 / 3
  • Auch hier steht die Kundschaft auf den Führungselementen. Weiter vorne sieht man die Fortsetzung durch die standardisierten Leitlinien bei der Fussgängerampel. Bild: Tobias Hoffmann
    3 / 3
Tobias Hoffmann/Zürich24