Urs Heinz Aerni
Sabina Altermatt, Sie sind als Tochter eines Tunnelbauers in den Bündner Bergen aufgewachsen und ich las mal irgendwo, dass Sie nie nach Zürich wollten. Nun leben Sie in der genannten Stadt. Unglücklich?
In Zürich war ich das erste Mal Anfang der 80er-Jahre. Die Stadt kam mir schroff, kalt und hart vor: Repression, Demos, Rasen betreten verboten.
Ja, klingt wirklich nicht einladend ...
Das hat sich in der Zwischenzeit geändert. Zürich ist freundlicher geworden. Vielleicht etwas zu freundlich. Die Gentrifizierung nimmt ihren Lauf, es hat kaum mehr Freiräume, wo etwas entstehen kann, wo das Unperfekte Platz hat. Sehr unglücklich macht mich die Verkehrssituation. Wieso man es nicht schafft, getrennte Spuren für Velos, Fusswege und Autos zu schaffen, ist mir ein Rätsel.
Eine Geschichte ohne Ende.
Ich wohne jetzt seit bald dreissig Jahren hier und gerate mit dem Velo fast täglich in brenzlige Situationen, obwohl ich keine offensive Fahrerin bin. Wenn es in diesem Tempo weitergeht, wird mein Velostadt-Wimpel noch an meinem Rollator hängen.
Sie sind einem grossen Publikum als Autorin bekannt und die Liste Ihrer Bücher kann sich sehen lassen. Dazu gehören Kriminalromane mit Zürich als Schauplatz und ein Historischer Roman mit Bündner Kulisse. Verwenden Sie geografische Settings auch als literarische Liebeserklärungen an die Regionen?
Man verbringt sehr viel Zeit mit einem Text, wenn man einen Roman schreibt. Deshalb ist es angenehm, diese Zeit an einem schönen Ort zu verbringen. Nein, im Ernst: Nichts ist schwieriger, als ganze Landschaften neu zu erfinden. «Bergwasser» etwa ist ein Mix zwischen Albula, Gotthard- und Vereinatunnel. Da muss man schon darauf achten, dass man auf der anderen Seite des Tunnels am richtigen Ort wieder herauskommt. Die Geschichte soll ja glaubwürdig sein. Wobei ich von Regio-Krimis als kriminelle Reiseführer nicht viel halte.
Sie studierten Staats- und Verwaltungsrecht, Politologie und Volkswirtschaft und schrieben in einer Arbeit über die Rechte von Strafgefangenen. Warum treibt Sie gerade dieses Thema um?
Mich hat schon immer der Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit interessiert. Nicht alles, was legal ist, ist auch legitim. Auch faszinieren mich Verbrechen. Nicht die Tat selber, sondern was im Kopf vor sich geht – das Psychologische. Schliesslich haben alle etwas Dunkles in sich. Es ist niemand 100-prozentig gut oder schlecht. Als ich im Gefängnis arbeitete, habe ich sehr vielschichtige und interessante Menschen kennen gelernt. Wichtig ist es aber, die Opfer nicht zu vergessen. Unser System ist sehr täterorientiert.
Bis heute engagieren Sie sich beruflich und politisch für Flüchtlinge, Arbeitslose, Strafgefangene und Opfer von häuslicher Gewalt. Wie würden Sie den Handlungsbedarf unserer Gesellschaft hierfür beschreiben?
Die Schweiz war auch mal ein Auswanderungsland. Das dürfen wir nicht vergessen. Mich irritiert die Haltung, dass wir davon ausgehen, dass uns zugewanderte Menschen etwas wegnehmen. Dabei bringen sie uns viel. Denken wir an die italienische Küche. Wir geben uns global als digitale Nomaden, aber vor der eigenen Haustüre sind wir sehr kleinkariert.
Tut sich gar nichts?
Im Strafvollzug ist man daran, der Resozialisierung mehr Gewicht beizumessen, was der richtige Weg ist. Es ist wichtig, die positiven Ressourcen zu stärken, den Menschen beizubringen, mit Autonomie umzugehen. Zu lernen, ein selbstbestimmtes und verantwortliches Leben zu führen, senkt die Rückfallgefahr. Das Problem beim heutigen Strafvollzug ist jedoch die fehlende Autonomie, man kann nichts selber entscheiden und muss keine Verantwortung tragen. Alles wird einem abgenommen.
Ich denke auch an die Gewalt Frauen gegenüber ...
Im Bereich Häusliche Gewalt ist seit dem Inkrafttreten der Istanbul-Konvention einiges am Laufen. Ungünstig ist jedoch die Zuständigkeit der Kantone und das Fehlen einer nationalen Gesamtstrategie. Für die gewaltbetroffene Person macht es keinen Unterschied, ob sie im Kanton Glarus oder im Kanton Bern häusliche Gewalt erfährt. Sie muss dasselbe Hilfs- und Unterstützungsangebot erhalten. Wir dürfen die föderalen Strukturen nicht zum Vorwand nehmen, um unseren Pflichten nicht nachzukommen. Ein grosses Problem sind die gewaltbegünstigenden Männlichkeitsvorstellungen. In diesem Bereich haben wir noch einiges zu tun. Auch bei der Gleichstellung. Denn Gleichstellung ist die beste Gewaltprävention.
Sie leben schon viele Jahre in Zürich, eine Stadt, die sich rasend verändert, gerade in Zürich West tut sich einiges. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Als ich Ende der 90er in die Siedlung Limmatwest zog, hat mich meine Mutter gefragt, ob ich wirklich in dieses Niemandsland ziehen wolle. Dann kam das Kulturlokal Sphères und das KraftWerk1, wo ich später gewohnt und heute noch mein Büro habe. Die Verkehrsberuhigung der Hardturmstrasse scheint mir etwas hilflos. Als Velofahrerin die Autos dazu zu bringen, Tempo 30 zu fahren, weil ich ihnen im Weg bin, ist der falsche Weg.
Dann hätten wir ja noch den Streit um das Hardturm-Stadion.
Dieses Gerangel um das Hardturm-Stadion hat mich zu meinem zweiten Buch «Alpenrauschen» veranlasst. Es ging mir nicht in den Kopf, dass Menschen, die gegen das Stadion sind, Morddrohungen erhalten haben. Ich habe die Geschichte ins Unterengadin gezügelt und aus dem Stadion wurde ein Kongresszentrum. Ich hoffe, dass die Stadionbrache als zürich-untypischer, unperfekter und wunderschöner Ort noch lange erhalten bleibt.