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Stadt Zürich
19.12.2023
19.12.2023 07:23 Uhr

Sie helfen Hungernden, Suchenden – und Scheidungskindern

Bereiten die Essensausgabe vor: Sabine Bertschinger und Simcha Lindt.
Bereiten die Essensausgabe vor: Sabine Bertschinger und Simcha Lindt. Bild: Daniel J. Schüz
Über eine halbe Million Menschen nutzen den Hauptbahnhof Zürich – pro Tag. Darunter sind nicht wenige, die Hilfe brauchen. Der Verein Pro Filia sorgt sich schon seit 125 Jahren um das Wohl dieser Menschen. Wir haben zwei Mitarbeitende eine Schicht lang begleitet.

Daniel J. Schüz

Er ist ramponiert, wirkt irgendwie verloren. Seine rote Weste ist zerknittert, die Fliege hängt ihm schief am Hals. Ein Auge ist ihm abhandengekommen, das Fell ist tränengetränkt. Jemand hat ihn auf den blauen Ohrensessel gesetzt – wahrscheinlich das Scheidungskind vom letzten Sonntag ...
Er ist der Teddybär der Bahnhofhilfe. Und er hat schon viele Kinder getröstet. «Wenn wir begleitete Kindsübergaben durchführen, hat er einen wichtigen Job», erklärt Sabine Bertschinger. «Von den vielen Aufgaben, die wir hier wahrnehmen, ist dies die heikelste und anspruchsvollste.»

Der erste Kunde kommt

Punkt sieben Uhr. Bertschinger, die Leiterin der «SOS Bahnhofshilfe Zürich», schliesst die Tür auf, wirft erst die Kaffeemaschine, dann den PC an und stellt den Wecker auf 8.10 Uhr. «Dann kommt der erste Kunde, zuvor müssen wir die Lebensmittel holen!» Heute fühlt sich die 58-Jährige besonders gefordert. Das liegt nicht nur am Reporter, der dauernd Fragen stellt. Es liegt auch an Simcha Lindt, einem jungen Berner mit hebräischem Vornamen, der heute seinen ersten Arbeitstag bei der Bahnhofhilfe in Angriff nimmt. «Simcha bedeutet Freude», sagt er. «Der hebräische Vorname ist Verpflichtung: Ich möchte den Menschen Freude geben!»

Die Brot-Tour

Die Chefin und der Neuling streifen sich orange Gilets über und schieben einen Handkarren mit Plastikharassen durchs Shopville: Die Brot-Tour beginnt bei der Bäckerei Buchmann, weiter zu Stocker, Hitzberger, «Zopf & Zöpfli». Dutzendweise werden Weggli, Gipfeli, Semmeli, Sandwiches, Salate – alles von gestern, alles ­gratis, mittlerweile unverkäuflich, aber durchaus geniessbar – in die Kisten geladen und ins kleine Hauptquartier gekarrt.
Noch bevor der Wecker Alarm schlägt, hat Simcha online gecheckt, ob die S-Bahn pünktlich ankommen und der Intercity nach Bern planmässig abfahren wird. Zehn Minuten später stehen die beiden am Perron 21 und nehmen Silvan in Empfang, einen jungen Stammkunden, der mit dem Gendefekt Trisomie 21 geboren wurde und «normalerweise auch ohne uns zurechtkommt», sagt Sabine Bertschinger. «Doch wenn der Zug Verspätung hat oder irgendeine Kleinigkeit von der Norm abweicht, kann er die Orientierung verlieren.»
Um 9.30 Uhr beginnt die Essensausgabe. Bis dahin müssen die Backwaren in Plastiksäckli verpackt und die Sandwiches nach ihrem Belag – Fleisch oder Käse – sortiert sein.

Er will nicht gesehen werden

Und schon stehen die hungrigen Kostgänger am Schalter. «Ein Sandwich hätte ich gerne!» Der bärtige ältere Mann schaut sich rechts und links um, will offenkundig nicht gesehen werden. «Käse oder Schinken?», fragt Simcha. «Rindfleisch.» «Haben wir leider nicht mehr.» «Dann doch lieber Käse.»

Nur Zürich bietet alles an

Die kostenlose Abgabe von Lebensmitteln ist Sabine Bertschinger ein Herzensanliegen; sie hat dafür gesorgt, dass unter den acht Schweizer Bahnhofhilfe-Filialen jene in Zürich als einzige sämtliche Dienstleistungen anbietet – von der Passagierbegleitung über die Abgabe von Lebensmitteln und Kleidern bis zur abgeschirmten Ecke für Mütter, die in Ruhe ihre Babys stillen und wickeln wollen.
Seit fünfzehn Jahren verbringt die gebürtige Baslerin ihre Arbeitstage im Untergrund; als Leiterin der Bahnhofhilfe «habe ich meine Lebensaufgabe gefunden». Das Tageslicht sieht sie dabei nur ausnahmsweise – etwa, wenn sie Helen Zimmermann mit ihrem Labradormischling Aiko an der Tramhaltestelle abholt und zum Gleis 5 begleitet, wo in wenigen Minuten der Zug nach Linthal einfährt. Helen Zimmermann, die zur Stammkundschaft der Bahnhofhilfe gehört, sieht auch in der Oberwelt kein Sonnenlicht – nicht mehr: Sie ist vor gut zwanzig Jahren, damals 44-jährig, vollständig erblindet.

Seit 1883

Die Begleitung von «Menschen mit physischen und psychischen Einschränkungen», sagt Sabine Bertschinger, sei seit ­jeher das eigentliche Kerngeschäft der Bahnhofhilfe gewesen: «Schon vor 140 Jahren, als die Bahnhofhilfe gegründet wurde, haben beherzte Frauen es sich zur Aufgabe gemacht, im Bahnhof hilflosen Menschen beizustehen.»
Aus dem Verein «Freundinnen junger Mädchen» und dem Katholische Mädchenschutzverein, die damals die Bahnhofhilfe ins Leben riefen, sind unterdessen die Dachverbände Compagna und Pro Filia geworden; bis heute sind sie die tragenden und treibenden Kräfte der Bahnhofhilfe geblieben.
Auch die enge Zusammenarbeit mit den SBB ist historisch gewachsen. Der Bundesbetrieb stellt die Räumlichkeiten zur Verfügung und vermittelt zugleich die Kundschaft: Passagiere, die auf Assistenz angewiesen sind, um beim Umsteigen den Anschlusszug nicht zu verpassen, können bei der SBB eine Begleitung anfordern. «Selbstverständlich kostenlos», betont Sabine Bertschinger.

Lebensraum für Obdachlose

«Das sind unsere Kunden», fährt sie fort. «Bei allen anderen handelt es sich um Klienten.» Alle anderen sind zwar weniger eingeschränkt, dafür besonders bedürftig: Es geht um Obdachlose, die den Bahnhof nahezu rund um die Uhr zum Lebensraum gemacht haben, um Menschen, die vor Krieg und Elend geflohen und im HB gestrandet sind. Um Menschen, die Hunger und Durst leiden, die einsam sind oder verzweifelt. Sie alle sind die Klientel, die früher oder später den Weg zur kürzesten der vielen Rolltreppen im Zürcher Hauptbahnhof findet.
Bei der grossen Uhr zwischen Kiosk und Grill führt diese Rolltreppe zur Dienstleistungsebene im Zwischenboden. Hier kann man den Koffer ins Fach schliessen, die Blase leeren, auf den Zug warten, im Andachtsraum der Bahnhofkirche beten. Oder bei der Bahnhofhilfe ein Sandwich abholen.

Dieser Teddybär hat schon viele Kinder getröstet, auch, aber nicht nur in der Adventszeit. Bild: Daniel J. Schüz

Der Papi muss vorne warten

Mit Nachdruck legt Sabine Bertschinger Wert auf die Unabhängigkeit ihrer Institution: «Niederschwelligkeit ist unser oberstes Gebot. Wir fragen die Leute nicht nach ihrem Namen und auch nicht, warum sie zu uns kommen. Es müssen keine Formulare ausgefüllt werden. Und in der Regel verlangen wir auch kein Geld.» Mit zwei Ausnahmen: Wer einen Rollstuhl mieten will, zahlt zwanzig Franken für einen ganzen Tag. Und Elternteile, deren Beziehung so endgültig zerbrochen ist, dass sie einander nicht mehr sehen wollen, müssen zweimal zehn Franken berappen, wenn das Besuchsrecht aufgegleist wird – einmal fürs Bringen und einmal fürs Abholen des Kindes.
Dann wird ein Mami mit dem kleinen Töchterchen in den hinteren Raum geführt, wo der Teddy auf dem blauen Sessel sitzt. Wenig später kommt der Papi und muss im vorderen Raum warten, bis man ihm das Kind bringt. Neulich lag nach der Übergabe eines Scheidungskindes ein Blatt Papier neben dem Teddy. Mit Farbstiften war da eine Sonne hingemalt worden, dazu ein Herz, ein Haus und eine Blume. Und ein paar Buchstaben: «Sie sind so lieb von der Bahnhofhilfe.»

125 Jahre Pro Filia

1898 wurde der Zürcher Ableger von Pro Filia gegründet. Seither kümmert sich der Verein mit Sitz im Stadtzürcher Kreis 6 zusammen mit dem Verein Compagna um Menschen, die Hilfe brauchen, etwa im HB Zürich. profilia.ch

Daniel J. Schüz/Zürich24