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Zürich 2
29.12.2023
29.12.2023 10:13 Uhr

Die sanfte Gleichgültigkeit des Belvoirparks

Die Enge erweist sich heuer als erstklassiger Wintersportort.
Die Enge erweist sich heuer als erstklassiger Wintersportort. Bild: Lara Alina Hofer
Adeline, 92, wuchs neben dem Belvoirpark auf, wo winters geschlittelt wurde und sommers die grosse Tanne beim ­Eingang als Versteck diente. Stadtbeobachterin Lara, 21, hat für Adeline die Tanne gesucht und gefunden.

Lara Alina Hofer*

«Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» liegt auf meinem Nachttisch. Ich schmiege mich an die angewärmte Bettdecke und blicke aus dem beschlagenen Fenster. Weiss. Weiss. Weiss. Es ist Dezember, das Thermometer zeigt minus fünf Grad, draussen fällt Schnee. Eingepackt in Schal, Wollmütze und Handschuhe verlasse ich nur widerwillig die Geborgenheit meiner Wohnung und stampfe durch die leeren Quartierstrassen. Wegen Eisglätte fällt der Bus aus, ich muss den ­Anstieg von der Brunaustrasse zum
Belvoirpark zu Fuss auf mich nehmen.

Das Paradies

Hundert dampfende Atemzüge später eröffnet sich mir das Paradies, ein Winter Wonderland, schöner als im Disney-Film. Verschneite Laubbäume und ein gefrorener See schmücken den Park, gleich beim Eingang thront eine kolossale Tanne. Die Äste leiden unter dem schweren Weiss wie die Menschen unter der Zeit. Ich stelle mich unter sie, lehne mich an den von Efeu umarmten Stamm und blicke empor. Ast um Ast bildet sich eine Leiter. Wie gerne würde ich es an die Spitze schaffen ...
Ich denke jetzt an meine Tanne. Sie steht in Büren an der Aare und sieht bestimmt genauso verschneit aus. Auch ohne mich. Haben wir alle irgendwo einen Baum stehen, der nur uns gehört und unter dessen Äste aus Erinnerungen wir uns stellen? Manchmal um zu verschwinden, manchmal um gefunden zu werden?

Ist es ihre Schlittelspur?

Ich stiefle weiter, einen Hang empor, durchzogen von einer einzigen Schlittenspur. Vielleicht Ihre, Frau Pfender, von ­damals, aus Kindertagen? Würde Sie das freuen oder irritieren? Ich hänge Gedanken über die Vergänglichkeit nach – da erblicke ich sie: die Villa des Belvoirparks! Erbaut 1830 von Heinrich Escher, Wohnhaus seines Sohnes, des Staats- und Wirtschaftsmannes Alfred Escher, und von dessen Tochter Lydia Welti-Escher. Hier sind nur die ganz feinen Leute willkommen. Aber so ein Zvieri ...? Das wäre jetzt fein. Mit mutigen Schritten steure ich auf die Villa zu und klopfe an.

Ich stelle mir vor, wie ein Urenkel von Alfred Escher die Tür aufreisst, mich überrascht anstarrt und fragt: «Was wollen Sie hier?» Ich büschle mir schon hastig eine Antwort zurecht: «Ich bin Schriftstellerin und schreibe eine Kolumne über den Belvoirpark. Mir frieren die Finger ab, bitte lassen Sie mich eintreten!» Der Urenkel wäre ganz in Schwarz gekleidet, mit Mantel. Er würde mich abschätzig beäugen und dann augenverdrehend zur Seite treten: «Ich gebe Ihnen fünf Minuten.» Und diese fünf Minuten würden reichen, um sich unsterblich ineinander zu verlieben, wir würden zusammen in der Villa wohnen, im Frühling Hochzeit feiern – Sie wären natürlich auch eingeladen, Frau Pfender! – und im Sommer draussen sitzen, küssen und Kinder zeugen ...

«Sie wünschen»?

RUMMS! Die Tür öffnet sich ruckartig. Vor mir steht ein junger Herr, circa 26 Jahre alt, schwarzes Haar, schwarzer Bart, helle Augen, gross, in Anzug gekleidet. «Kann ich Ihnen helfen?» Ich spucke den Satz aus, den ich vorhin so sorgfältig einstudiert hatte: Schriftstellerin, frierende Finger, eintreten? Er lächelt. «Nur zu.»
Ich zögere. «Sind Sie sicher? Hier sieht alles so chic aus.»
«Kommen Sie nur.»
So stellt sich heraus, dass die Villa seit 1901 der Stadt Zürich gehört und heute als öffentliches Restaurant dient. Im Speisesaal umgeben mich weisse Tischtücher, polierte Weingläser, Weihnachtsbäume, Kerzen, Gemälde und eine Aussicht auf den Zürisee. Ein Kellner tritt an meinen Tisch.
«Eine Kolumne also?»
«Ja, Sir.»
«Sie sind also von der Presse?»
«Nein, Sir.»
«Und was wollen Sie?»
«Kaffee, Sir.»

Peter Stamm als Lektüre

Das Getränk wird serviert, dazu Gebäck und eine separate Kanne Milch. Ich fühle mich fehl am Platz und das liebe ich sehr. Ich schlage Peter Stamm auf, «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt». Der Abend bricht herein und lässt den Kaffee kalt werden. Zum Abschied mach ich einen Knicks und trete dann in die stille Nacht. Durch den Schnee wate ich nach Hause. Es fällt mir jetzt leichter, Spuren zu hinterlassen.

* Stadtbeobachterin Lara Alina Hofer (21), Zürich: «Hängt euch diesen Text an die Wand. Ich will noch lange nicht vergehen!»

Adeline Pfender (92), die Wünschende 

Adeline Pfender, 92, wohnte ihre ersten zehn Lebensjahre in der Enge, direkt neben dem Rieter- und Belvoirpark, später zog sie in den Kreis 6. Der Rieterpark war damals für die Öffentlichkeit noch nicht offen, der Belvoirpark hingegen «ein Paradies». Sein Hügel eignete sich perfekt zum Schlitteln, und im Sommer spielte man rund um die grosse Tanne Versteckis, Räuber und Poli und andere Spiele. Der Gärtner habe wohl nicht so Freude an ihnen gehabt, meint Adeline Pfender heute. In der Belvoir-Villa gab es jeweils Zvieri für die «feinen Leute», erzählt sie, auch sie selbst wurde dort einmal zum Zvieri eingeladen und auch einmal zum Zmittag.» 

Auch einen Wunsch?

Die Stadtbeobachterinnen und -beobachter aus dem Jungen Literaturlabor (JULL) berichten für diejenigen, die zu Hause bleiben müssen, von «Wunschorten». Möchten Sie eine(n) der jungen Schreibenden an Ihren «Wunschort» schicken? Wir freuen uns über Vorschläge an ­office@jull.ch.

Lara Alina Hofer*