Lisa Maire
Für Peter Iczkovits ist sein Überleben im KZ Bergen-Belsen ein Wunder: Er und seine ältere Schwester, beide krank und geschwächt, waren auf dem Wagen mit den Toten gelandet, die im KZ täglich eingesammelt und zum Krematorium am Ende der Lagerstrasse gekarrt wurden. Doch eine Lagerinsassin merkte, dass die Kinder noch lebten: Sie hörte Peter husten! Vom Lageraufseher erhielt sie dann die Erlaubnis, die Kinder vom Totenwagen runterzunehmen und zu pflegen.
Iczkovits selbst erinnert sich nicht an diese Geschichte. Er war ja kaum zwei Jahre alt. Erfahren hat er das «Wunder» erst viel später – als er die Tagebuchnotizen seiner damaligen Retterin, die ebenfalls in Zürich lebte, las. In seinen Körper eingebrannt hat sich indes der Husten. Er huste bis heute, erzählt der 81-Jährige im Buch. Es ist ein rätselhafter Reizhusten, ohne medizinischen Befund.
Nach der Rettung die Entfremdung
Seine Rettung vom Totenwagen blieb das Einzige, das Iczkovits über sein Leben während des Kasztner-Transports und den Monaten in Bergen-Belsen erfuhr. Weder Mutter noch Schwester noch weitere Mitglieder der Familie, die damals mit der geheimen Freikaufaktion gerettet wurden, sprachen über ihre traumatischen Erlebnisse. Der Holocaust blieb ein Tabu.
Das Erste, woran sich Iczkovits bewusst erinnern kann, ist ein Ereignis im Sommer 1946 in einem Sanatorium in Leysin, wo er seine Tuberkulose auskurieren musste: Der Vierjährige erkannte seine Eltern, die zu Besuch kamen, nicht mehr. Sie waren für ihn Fremde, die in einer ihm fremden Sprache auf ihn einredeten. Sie hätten ihm Angst gemacht, sagt Iczkovits im Buch. Zu der Entfremdung kam es, weil die Mutter sich wegen psychischer Probleme nicht mehr um ihn kümmern konnte und weil er selbst in die Tuberkuloseklinik musste. Den Vater hatte er noch länger nicht gesehen. Er durfte erst 1946 aus Ungarn ausreisen, wo er als Jude bis zum Kriegsende Zwangsarbeitsdienst leisten musste.
In Zürich, wo sich Vater Alfred Iczkovits zwischenzeitlich alleine im Wiediker «Falken» einquartiert hatte, kam die auseinandergesprengte Familie endlich wieder zusammen. Sie wohnte zuerst im Kreis 6, zog dann in die Enge, während der Vater – nach vielen Kämpfen gegen bürokratische Hindernisse und die Konkurrenz – das in Ungarn verlorene Autohandelsunternehmen der Familie wieder neu aufbaute.
Erinnerungslücke als Glück
Als Primarschüler kam Peter vorübergehend in ein jüdisches Internat in der Westschweiz. Er hatte sich zu einem rebellischen Kind entwickelt, von Unruhe getrieben, trotzig und gegenüber Erwachsenen auf Provokation gebürstet. «Ich hatte eine freche Schnurre», sagt er im Buch. Später, nach Handelsschule, Einbürgerung und religiöser Schulung, wurde er ernster, heiratete und übernahm nach dem Tod des Vaters 1970 das Autohandelsgeschäft in Wiedikon, wo er sich mit seiner Familie auch niederliess. Heute führt Sohn Chanan, das älteste seiner zehn Kinder, den Betrieb.
Dass er sich selbst nicht bewusst an den Horror des Holocaust erinnern kann, bezeichnet Peter Iczkovits als Glück. Doch dieses hat seinen Preis: Als Einziger in der Familie, der nicht in das düstere Geheimnis eingeweiht war, fühlte er sich stets als Fremdkörper. Und je älter er wurde, desto mehr beschäftigte ihn die Frage, was in den ersten Jahren seines Lebens passiert war. Zuerst alleine, dann gemeinsam mit der Historikerin und Journalistin Katrin Schregenberger fing er an, der Vergangenheit seiner jüdisch-orthodoxen Familie intensiv nachzuspüren.
Die Autorin setzt Iczkovits’ Erzählungen, seine gesammelten Originaldokumente und Fotos aus dem Familienfundus in einen historischen Kontext, wobei sie sich auf umfassende Recherchen in Archiven und in der Forschungsliteratur stützt. Insbesondere beleuchtet sie die Geschehnisse rund um den wenig bekannten Kasztner-Transport. Ihm verdankten Ende 1944 fast 1700 jüdische Flüchtlinge aus Ungarn ihre Rettung in die Schweiz. Die geheime Freikaufaktion kam durch einen Deal zwischen dem ungarischen Juden Rudolf Kasztner und dem Nazi-Verbrecher Adolf Eichmann zustande und wird deshalb bis heute sehr kontrovers diskutiert. Statt direkt in die Schweiz wurde der Zug mit der Kasztner-Gruppe aber wegen «logistischer» Probleme erst einmal ins KZ Bergen-Belsen gelenkt. Dort blieb die Weiterreise mehrere Monate blockiert. Bergen-Belsen diente der SS ab 1943 vor allem als «Aufenthaltslager» für jüdische Häftlinge, die gegen deutsche zivile Internierte im Ausland ausgetauscht werden sollten.
Holocaust greift nach Nachkommen
In den masslos überfüllten KZ-Baracken, wo Hunger, Seuchen, Kälte, Dreck, Erniedrigungen und tiefe Angst regierten, starben insgesamt Zehntausende von Jüdinnen und Juden – unter ihnen auch solche aus der Kasztner-Gruppe.
In ihrem Buch gibt Schregenberger den Vorfahren von Peter Iczkovits erzählerisch ein Gesicht. Auch das Schicksal der Familie auf der Flucht und nach der Ankunft in der Schweiz zeichnet sie auf berührende Weise nach, indem sie sich in ihre Ängste und Nöte hineinversetzt. Dabei wird deutlich, wie verbreitet Antisemitismus auch hierzulande war und wie fragwürdig sich der Umgang der Behörden mit den Flüchtlingen gestaltete: Viele Familien wurden in den Empfangslagern auseinandergerissen, die Kinder in Kinderheime gebracht. Wie traumatisierend die Trennung auf die bereits verstörten Kinder wirken konnte, versteht sich von selbst. Das Warum der Massnahme ist im Buch nicht explizit thematisiert. Auf Nachfrage erklärt Schregenberger, die offizielle Begründung habe gelautet, ein Flüchtlingslager sei kein Ort für Kinder.
So schwer das Thema des Buchs ist – in den Erzählungen von Peter Iczkovits blitzen immer wieder Schalk, Humor und Selbstironie auf und geben der Lektüre streckenweise eine vergnügliche Note. Trotzdem macht auch seine Lebensgeschichte klar: Der Holocaust überträgt sich auf nachfolgende Generationen, auch wenn die direkt Betroffenen nicht darüber reden.