Pia Meier
Der 68-jährige Nicola Behrens sitzt in der denkmalgeschützten Röslischüür in Unterstrass. Diese wird vom Quartierverein Unterstrass genutzt und vermietet. Behrens ist Archivar des Vereins und hat das Archiv in letzter Zeit ausgestaubt und wieder auf Vordermann gebracht. «In erster Linie interessiert mich die Geschichte der Stadt Zürich und diejenige von Unterstrass. Aber ich habe mich auch sehr stark mit der DDR auseinandergesetzt.»
An der Geschichte fasziniere ihn zu sehen, vor welchen Fragen die damals handelnden Personen gestanden seien. «Es ist spannend zu erfahren, weshalb sie sich für die eine oder andere Lösung ihrer Probleme entschieden haben.» Häufig seien diese Fragestellungen ja ähnlich mit den Problemen der heutigen Gesellschaft und manchmal würden gleiche Lösungen wie früher und manchmal völlig andere gewählt. «Da kann man sehen, wie sich der Zeitgeist verändert hat.»
Eine Schande für die Familie
So sei es zum Beispiel in den 1950er-Jahren eine Katastrophe gewesen, ein uneheliches Kind zu haben. Das habe der Mutter Schande gebracht. Heute sei dies akzeptiert. Geschichte sei auch in der Gegenwart wichtig. «Sie kann uns etwas demütiger machen, wenn wir sehen, dass sich frühere Generationen zwar vielleicht nicht so entschieden haben, wie wir das heute machen, aber dass sie genauso klug wie wir heute waren.»
Doch muss die Gesellschaft die Geschichte wie zum Beispiel im Fall Bührle im Kunsthaus oder von Alfred Escher aufarbeiten? «Selbstverständlich muss sich jede Generation ihr eigenes Bild davon machen, in welcher Gesellschaft wir leben. Da wir aber in einer vergleichsweise sehr freien Gesellschaft leben, sind sehr viele historische Tatsachen bekannt oder wir könnten sie wissen, wenn wir wollten.» Persönlich finde er, dass es weniger wichtig ist, den historischen Akteuren Zensuren zu erteilen, als selber anständig und möglichst korrekt zu handeln. «Also liefere statt lafere.»
Ein anderes Beispiel der Geschichte ist die Fichenaffäre beziehungsweise die Staatsschutzakten der Polizei, die Behrens für das Stadtarchiv Zürich aufgearbeitet hat. «Wir müssten zwingend die Lehren daraus ziehen: Die Politik muss der Polizei die politischen Vorgaben machen, welche Daten gesammelt werden sollen und wie diese verwendet werden.» Die Vorkommnisse der letzten Jahre um die Datensammelwut des Nachrichtendienstes würden zeigen, dass sich die zuständigen Personen im Parlament und Bundesrat um diese Aufgabe drückten.
Unterstrass nahe
Behrens hat das Jubiläumsbuch 125-Jahre-Jubiläum Quartierverein Unterstrass – «Auf dass es eine Lust bleibe, Unterstrass zur Heimat zu haben» mit Ulla Bein herausgegeben. «Natürlich stand und steht mir Unterstrass besonders nahe. Dazu habe ich sowohl die Protokolle der Gemeinde Unterstrass von 1798 bis 1893, als Unterstrass eine selbstständige Gemeinde war, als auch die Protokolle des Quartiervereins Unterstrass von 1896 bis heute durchgeackert.» 1875 hatte der Kanton den Gemeinden vorgeschrieben, dass Schweizern, die zehn Jahre in einer Gemeinde gewohnt haben, das Gemeindebürgerrecht unentgeltlich erteilt werden muss. «In diesem Sinne bin ich jetzt selbstverständlich ein Untersträssler.» Ist ein Buch in der heutigen Zeit noch aktuell? «Vielleicht wäre eine digitale Aufbereitung besser gewesen. Aber andererseits finde ich es einfach einen Genuss, ein Buch oder eine Broschüre in den Händen zu halten und durchblättern zu können.» Die Broschüre über Unterstrass gebe es auch elektronisch. «Wir könnten sie also wahrscheinlich ohne Weiteres auch aufs Netz stellen.»
Raum für Inputs
Behrens hat zahlreiche Führungen gemacht und plant auch in Zukunft welche. So zum Beispiel Führungen zu Unterstrass, Führungen zu Schauplätzen der ehemaligen Drogenszene Zürich und Führungen im Rahmen von Stattreisen Zürich. «Im Gegensatz zu einem Buch, das etwas Abgeschlossenes ist, bieten Führungen häufig die Gelegenheit für Inputs aus der Zuhörerschaft.»
Gerade bei der Drogenführung, welche er zusammen mit der Suchtprävention der Stadt Zürich entwickelt hat, habe er höchst interessante und kompetente Personen auf dem Rundgang gehabt, von denen er viel lernen und dank denen er die Führung aktualisieren konnte. Da waren etwa der ehemalige Polizeivorstand Bobby Neukomm oder das ehemalige Kader der Betäubungsmittelgruppe der Stadtpolizei Zürich, aber auch Sozialarbeiter/-innen, Polizisten und ehemalige Drogenkonsument/-innen auf dem Rundgang dabei. «Führungen sind einfach kommunikativer und dynamischer als Publikationen», betont Behrens.
Behrens ist seit 1992 in der Sozialdemokratischen Partei. «Als wir nach Unterstrass gezogen sind, bin ich in den Sektionsvorstand eingetreten, den ich später während 9 Jahren präsidiert habe. Nach meiner Pensionierung bin ich wieder dort eingetreten und schreibe die Protokolle.» Er sei in einem sehr politischen Haushalt aufgewachsen. «Einer meiner Grossväter war auf der schwarzen Liste der Nazis und der andere war Frontist. Mein Vater war FDP-Gemeinderat der Stadt Zürich.» Dass er sich da parteipolitisch engagieren würde, sei auf der Hand gelegen.
Behrens ist sehr vielseitig interessiert. «Natürlich bin ich an Literatur interessiert und von fremden Kulturen können wir lernen, dass man Probleme anders angehen kann, als wir es machen.» Seine Interessen seien ziemlich vielfältig, da er sich für einen neugierigen Menschen halte. «Das habe ich wahrscheinlich von meinem Grossvater geerbt.» Er habe zudem Freude am Fussball und sei FC-Zürich-Fan, ohne allerdings an die Spiele zu gehen.